Bibliothekarische Frauenbiographien zwischen Weimarer und Bonner Republik

Eine neue Buch-Veröffentlichung mit TIB-Kontext

„Bei der Rezeption von Bibliotheksgeschichte fällt auf, dass sich die älteren Darstellungen häufig an den Verdiensten der die Bibliotheken jeweils leitenden Direktoren orientieren, da deutschen Universitäts- und Hochschulbibliotheken an der Spitze bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ausschließlich Männer vorstanden. Diese Feststellung trifft auch auf die Geschichte der Bibliothek der Technischen Hochschule Hannover zu[1]“, stellt Autor Andreas Lütjen in der Einleitung seines Buches Bibliothekarische Frauenbiographien zwischen Weimarer und Bonner Republik fest und hat mit dieser Veröffentlichung die bisher bekannte Überlieferung eindrucksvoll erweitert.

Anhand der Lebensläufe zweier Bibliothekarinnen der Bibliothek der Technischen Hochschule Hannover, dessen Rechtsnachfolgerin die heutige TIB ist, hat Lütjen bibliothekarischen Frauenbiographien zwischen Weimarer und Bonner Republik nachgespürt. Mithilfe der im Archiv der TIB/Universitätsarchiv Hannover vorhandenen Personalakten, ergänzt um umfangreiche Recherchen in zahlreichen Stadt- und Landesarchiven, zeichnet er dabei die Ausbildungswege und beruflichen Karrieren der beiden Frauen detailliert nach.

Diese Themen sind für mich als Ausbildungsleitung in der heutigen TIB von besonderem Interesse, denn unsere jetzigen Ausbildungswege im Bibliothekswesen unterscheiden sich sehr deutlich von den damaligen. Mein Fokus lag beim Lesen daher besonders auf dem Aspekt der Aus- und Fortbildung.

Um wen geht es?

Elisabeth Boedeker, Passfoto von 1955.

Elisabeth Boedeker, Diplom-Bibliothekarin

*Wetzlar, 10.10.1893, + Hannover, 01.07.1980

Elisabeth Boedeker hat sich u.a. als Chronistin der Frauenbewegung einen Namen gemacht. Von ihr stammt u.a. die Bibliographie der Dissertationen von Frauen in den Jahren 1908 bis 1933, die sie aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Zulassung von Frauen zum Universitätsbesuch in vier Heften veröffentlichte.

 

Dr. Elisabeth Weber, Passfoto von 1941.

Dr. Elisabeth Weber, Abteilungsleiterin der Katalogisierung und Buchbinderei; Kunsthistorikerin

*Hannover, 26.03.1903- + Kreiensen, 08.02.1948

Elisabeth Weber stand kurz davor, als erste Frau in der Bibliothek der Technischen Hochschule Hannover eine im Haushalt etatisierte Stelle als Bibliotheksrätin einzunehmen. Diese Stelle wäre außerdem auch die erste Stelle des höheren Dienstes neben der des Direktors gewesen. Sie hatte sich wissenschaftlich mit den Bucheinbänden der Sammlung Haupt auseinandergesetzt, diese katalogisiert und Durchreibungen angefertigt.

Wie war die Ausbildung damals geregelt?

Nachdem Elisabeth Boedeker Ostern 1912 das Zeugnis für die Primarreife (in etwa vergleichbar mit der heutigen Fachhochschulreife) an der heutigen Sophienschule erhalten hatte, nahm sie Unterricht in Stenographie, Maschinenschreiben und Buchbinderei. Von Herbst 1913 bis Frühjahr 1914 hielt sie sich in Lausanne zum Studium der französischen Sprache und Literatur auf. Es folgte ein halbes Jahr Volontariat in der Königlichen und Provinzialbibliothek Hannover, der heutigen GWLB. Eine unbezahlte Tätigkeit, denn Boedekers Volontariat wurde nur unter der Bedingung, dass daraus keine Kosten entstünden, genehmigt. Anschließend besuchte Boedeker einen privaten Theoriekurs des königlichen Bibliothekars Dr. Schneider in Berlin, dem ein erneutes, nun einjähriges Praktikum in der Königlichen und Provinzialbibliothek in Hannover folgte. Dieses beendete sie am 31. März 1917 mit einem sehr guten Zeugnis. Sie bestand die Prüfung für den mittleren Bibliotheksdienst im Herbst 1917.

Nach zwei ersten Arbeitsstationen trat sie am 1. Juli 1922 ihre Stelle in der Bibliothek der Technischen Hochschule als Hilfsarbeiterin an. Sieben Jahre später wurde Boedeker in ein beamtenrechtliches Verhältnis übernommen und Bibliotheksinspektorin. Bis zu ihrem Ausscheiden im Oktober 1958 arbeitete Boedeker in der Bibliothek der Technischen Hochschule Hannover. Durch ihre stundenweise Weiterbeschäftigung im Anschluss erlebte sie auch den Aufbau der heutigen Technischen Informationsbibliothek mit, die 1959 gegründet wurde. Auf diese Weise war sie fast 40 Jahre in der Bibliothek tätig.

Die heutzutage übliche Berufsbezeichnung „Bibliothekarin“ durfte Boedecker übrigens nicht verwenden, wie 1926 aus einem Schreiben von Dr. Trommsdorff (damals Leiter der Bibliothek) an den Rektor der Hochschule hervorgeht:

„Bibliothekarinnen gibt es an preußischen Staatsbibliotheken nicht. Bibliothekar ist die Bezeichnung der an den Staatsbibliotheken beschäftigten Anwärter auf Bibliotheksratstellen, die die bibliothekarische Fachprüfung abgelegt haben. Ich bitte ergebenst, dem genannten Verein mitzuteilen, daß die Bibliothekshilfsarbeiterin Boedeker nicht berechtigt ist, sich Bibliothekarin zu nennen und der Angestellten Boedeker den weiteren Gebrauch dieser Bezeichnung zu untersagen.[2]

Zu dieser Verstimmung kam es, weil Boedeker in einem Schreiben der Ortsgruppe Hannover des  Allgemeinen Deutschen Frauenvereins als Bibliothekarin bezeichnet wurde.

Anders als Boedeker wurde Dr. Elisabeth Weber nach ihrem Schulabschluss an der Sopienschule, dem Besuch des Oberlyzeums und Rackows kaufmännischer Privatschule, ersten Tätigkeiten bei der Bank für Niedersachsen Aktiengesellschaft sowie als Stenotypistin bei der hannoverschen Landeskreditanstalt Ende 1927 ohne bibliothekarische Vorkenntnisse als Hilfsarbeiterin in der Bibliothek eingestellt. Nebenberuflich erwarb sie im März 1932 das Abitur.

Aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen stellte sie einen Antrag auf Zulassung zur Prüfung für den mittleren Bibliotheksdienst an wissenschaftlichen Bibliotheken, ohne den Besuch der Bibliotheksschule absolvieren zu müssen. Ebenfalls bat sie darum, von der Ableistung des obligatorischen einjährigen Praktikums befreit zu werden. Dieser Antrag wurde zwar nicht gewährt, doch erhielt sie die Möglichkeit, für einen festgelegten Zeitraum sowohl in der Bibliothek der Technischen Hochschule als auch in einer sogenannten Volksbibliothek tätig zu sein, um noch fehlende praktische Ausbildungsthemen nachholen zu können. Aus diesem Grund war Weber zeitweise auch in der Stadtbibliothek Hannover beschäftigt. Das fehlende Theoriewissen eignete sie sich selbst an. Im März 1933 bestand Weber die angestrebte Prüfung.

Bereits während ihrer Zeit am Abendgymnasium nahm sie private Unterrichtstunden in einer Buchbinderei. Dieses Interesse führte schließlich zu einem Studium der Architektur bzw. Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule Hannover. Da sie in Hannover nicht promovieren konnte, schied Weber für zwei Jahre aus dem Bibliotheksdienst aus, um das Studium in Göttingen zu beenden und dort auch zu promovieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass ihr vorab vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung folgendes mitgeteilt wurde:

»Sollte Fräulein Weber das Studium der Kunstgeschichte nur deshalb zu Ende führen wollen, um die Voraussetzung für die spätere Zulassung zum wissenschaftlichen Bibliotheksdienst zu schaffen, so wäre allerdings schon jetzt festzustellen, daß sie mit einer Zulassung zur Ausbildung für diesen Dienst nicht rechnen könnte, da weibliche Bewerber auch in absehbarer Zeit nicht zugelassen werden. Es erscheint angebracht, Fräulein Weber darauf hinzuweisen, bevor sie ihren Entschluß zur Ausführung bringt.[3]

Trotz zwischenzeitlicher Denunziation und Gestapohaft gelang es Weber, ihre Arbeit im Frühjahr 1946 einzureichen und die Promotion mit der mündlichen Prüfung am 8. Mai 1946 abzuschließen. Schon kurz vorher bewarb sie sich initiativ auf eine Anstellung im wissenschaftlichen Bibliotheksdienst bei der Bibliothek der Technischen Hochschule Hannover. Doch diese Stelle musste noch geschaffen werden, so dass Weber im Juli 1946 erst einmal nur befristet in den Dienst eintreten konnte.

Parallel dazu legte sie als Alternative die wissenschaftliche Prüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab und bat um Zulassung zur theoretischen Ausbildung für Bibliotheksreferendare an der Universitätsbibliothek Göttingen. Der Antrag, die Prüfung ohne Absolvierung des Theoriejahres ablegen zu dürfen, wurde mit der Begründung, sie habe bisher nur in einer kleinen Fachbibliothek gearbeitet, abgelehnt. Die Referendarausbildung war damals nur der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin und der Universitätsbibliothek Göttingen vorbehalten. Schließlich erhielt Weber jedoch den ersehnten Bescheid und die Erlaubnis, sich, nach einem noch zu absolvierenden Vierteljahr Theorieunterricht in Göttingen, zum Examen melden zu dürfen. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Weber verstarb nur wenige Wochen später bei einem tragischen Unfall.

Fazit

Lütjen zeichnet nicht nur den Ausbildungsweg, sondern auch die jeweiligen Karrierewege der beiden Frauen akribisch nach. Auch die familiären Umstände, kollegialen Unterstützungen bzw. Konflikte und Einflüsse des Nationalsozialismus beleuchtet der Autor. Das Buch enthält außerdem eine Chronologie der Veröffentlichungen Boedekers zwischen 1934 und 1981 sowie der Veröffentlichungen von Weber aus den Jahren 1940 bis 1947. Umfangreiche Quellen- und Literaturangaben sowie ein Register der vorkommenden Personen und Orte vervollständigen das 195 Seiten umfassende Werk.

Handschriftliches Katalogisiat von Elisabeth Weber, Quelle: https://goobi.tib.eu/viewer/image/179679838X/6/

Im Rahmen der Beschäftigung mit den Biographien der beiden Frauen ist jedoch nicht nur dieses detaillierte Buch entstanden, sondern auch die eingangs erwähnten und in Vergessenheit geratenen Arbeiten Webers zu den Einbänden der Sammlung Haupt wurden wiederentdeckt.

Durchreibung angefertigt von Dr. Elisabeth Weber, Quelle: https://goobi.tib.eu/viewer/fullscreen/1796800384/71/

Zuvor waren sie zwar im Katalog verzeichnet, aber nicht in einem Verlag erschienen und somit nicht allgemein bekannt. Zwischenzeitlich sind sie restauriert und stehen nun im Goobi Viewer zur Verfügung. Im Gegensatz dazu waren die Arbeiten Boedekers, die zur Grundlage „für jede wissenschaftliche Beschäftigung mit akademischen Frauenkarrieren in Deutschland[4]“ wurden, bekannt, so dass sie im April 1975 für ihre außerberufliche Leistung das Bundesverdienstkreuz erhielt. Weber blieb eine solche Ehrung und die Stelle als womöglich erste Leiterin einer wissenschaftlichen Bibliothek durch den frühen Unfalltod verwehrt, doch Lütjen hat ihr mit der Aufarbeitung ihres Lebensweges ein würdiges Andenken geschaffen.

Das sehr gut recherchierte und mit zahlreichen Fußnoten versehene Werk stellt eindrucksvoll die Karrierewege von Frauen in der Zeit zwischen Weimarer und Bonner Republik dar und ist eine bereichernde Ergänzung der Geschichte der TIB, in deren Bestand es mit der Signatur Hist N 8829/145 am Standort TIB Geschichte/Religionswissenschaft zu finden ist.


Anmerkungen:

Die Zitate wurden den jeweils in den Fußnoten angegebenen Seiten der hier besprochenen Publikation entnommen ([1] Seite 7, [2] Seite 39, [3] Seite 135, [4] Seite 101)

Passfoto Elisabeth Boedeker: Archiv der TIB / Universitätsarchiv Hannover, Hann. 146 A, Acc. 4/85, Nr. 62 I-II, hier: Bd. I

Passfoto Dr. Elisabeth Weber: Archiv der TIB / Universitätsarchiv Hannover, Hann. 146 A, Acc. 134/81, Nr. 54/3370

ist Fachreferentin für Biologie, Gartenbau, Umwelttechnologien und Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Informationsbibliothek (TIB) und zuständig für die Ausbildungskoordinierung (höherer Dienst).