Barrierefreiheit in Bibliotheken?!

Ein Artikel anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung ist ja schnell geschrieben. Wir nehmen aktuelle Zahlen, zitieren am besten eine UN-Konvention, schießen zwei, drei Fotos von barrierefreien Bibliotheksangeboten und schließen mit mahnenden Worten, dass uns das Thema Behinderung – spätestens im Alter – alle angeht. Auch dieser Artikel wird nicht ohne Zahlen und Fakten zum Thema Barrierefreiheit auskommen und auch hier wird es zwei, drei Fotos geben, aber mit dem Zweck, einen kritischen Blick auf und in die eigenen Einrichtung, genau genommen den TIB-Standort Conti-Campus, zu werfen.

Blick von oben auf das Bibliotheksgebäude am Conti-Campus
Von oben: Der TIB-Standort Conti-Campus. Foto: TIB/C. Bierwagen

Bereits bei der Recherche zur Barrierefreiheit in Bibliotheken zeigte sich, wie komplex die Angelegenheit ist. Man findet eine Fülle an gesetzlichen Vorgaben und Richtlinien von Berufsverbänden, Zielgruppenbestimmung, Begriffsdefinitionen, (Bau-) Vorschriften (DIN 18040-1) und eine dementsprechend umfassende Anzahl an Hilfsmitteln, Veranstaltungen und Fortbildungsangeboten sowie Best-Practice-Beispielen. Abschlussarbeiten bieten einen guten Überblick, der beim Lesen der zitierten Quellen schnell wieder verloren gehen kann. Für alle, die (noch) nicht die Zeit hatten, sich mit dem Thema zu befassen, sind im Folgenden besagte Zahlen aufgeführt sowie Handlungsfelder, anhand derer auch Sie Ihre Einrichtung prüfen können.

Grundlagen

Laut Statistischem Bundesamt leben 10,4 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung; 7,9 Millionen davon mit einer Schwerbehinderung. Alle von uns sollten eine Person in der Familie, im Bekanntenkreis kennen, der:die das Thema barrierefreie Teilhabe täglich angeht; wahrscheinlich hat ihr:e Bürokolleg:in vor Kurzem ihre:seine Vertrauensperson für die Schwerbehindertenvertretung gewählt.

Nicht jede Behinderung ist erkennbar. Die Einschränkungen können sowohl die Mobilität als auch das Seh- und Hörvermögen betreffen. Der Personenkreis mit Beschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit ist auch einzubeziehen. Menschen, die wegen Krankheit oder Verletzung vorübergehend Einschränkungen erleiden oder die mit dem Kinderwagen unterwegs sind, freuen sich ebenfalls über entsprechende Angebote – unabhängig ob Klein oder Groß, Alt oder Jung. Die Definition von Barrierefreiheit nach § 4 BGG besagt:

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.

Es geht also nicht nur um die analoge, sondern auch um die digitale Welt. Es geht um selbstständige, gleichgestellte Teilhabe. Es geht sowohl um chronisch Kranke/Verletzte als auch um kurzfristige Betroffene. Das Thema fängt bei barrierefreien Inhalten auf Webseiten an, geht über eine reibungslose Anreise bis hin zur problemlosen Teilnahme an einer Veranstaltung, umfasst Aufenthaltsqualität sowie den Zugang zu Medien samt barrierefreien Formaten mit eigenen/fremden Geräten.

Wie transportieren wir unsere Informationen? Wie kommunizieren wir mit den Menschen, die uns besuchen (wollen)? Welche Medien bieten wir in welchen Abspielformaten an? Barrierefreiheit zeigt sich nicht allein am ebenerdigen Zugang und an vorhandenen Fahrstühlen. Sie fängt bei der Darstellung der Informationen auf der Homepage an: Gibt es Informationen in Leichter Sprache und in Gebärdensprache, um sich eigenständig mit eigenen Geräten von zu Hause über die Anfahrt, die Öffnungszeiten und Angebote zu informieren? Ist die Homepage überhaupt barrierefrei gestaltet, sodass Screenreader sie vorlesen können oder gut gewählte Kontraste die Lesbarkeit des Seiteninhalts für Sehbehinderte verbessern?

Aus dem Bibliotheksalltag

Vor diesen Ausführungen erscheinen die Website und die Serviceangebote sowie das vertraute Bibliotheksgebäude im neuen Licht:

Das Webredaktionsteam berücksichtigt bei Updates Web Content Accessibility Guidelines. Mittlerweile finden Sie auf der Startseite der TIB zum Beispiel Informationen in Gebärdensprache und in Leichter Sprache. Es ist jedoch fraglich, ob diese Infos helfen, die Bibliothek zu benutzen sowie deren Arbeitsmöglichkeiten vorab kennenzulernen. Die Anreise gestaltet sich aufgrund von Bauarbeiten unter Umständen schwieriger als gedacht. Das Stolperpotenzial erhöht sich dadurch, dass sich Menschen mit Sehschwierigkeiten ihre Wege neu einprägen müssen.

Eine Tour durch die Bibliothek

Werfen wir einen Blick auf den TIB-Standort Conti-Campus: Wie ist es dort um die Barrierefreiheit gestellt?

Die meisten (Eingangs-)Türen des TIB-Standorts am Conti-Campus öffnen entweder automatisch per Sensor oder manuell per Tastenschalter.

Eine Wand, auf der sich ein Tastenschalter zur Öffnung der dahinterliegenden Glastür befindet.
Türöffner am TIB-Standort Conti-Campus. Foto: TIB/H. Schugt

Im Garderobenbereich am Conti-Campus wird es eng: der Abstand zwischen den Spinden beträgt 90 cm. Dies ist übrigens der Mindestabstand in öffentlichen Gebäuden.

Ein Mann räumt seine Garderobe in ein Schließfach.
Garderobenfach Foto: TIB/H. Schugt

Die Arbeitsplätze im Benutzungsbereich sind nicht höhenverstellbar und in der Regel mit Stühlen belegt.

Blick in den Lesesaal Rechstwissenschaften: Links befinden sich Regalreihen mit Büchern, rechts stehen Tische mit Stühlen, an denen Studierende lernen.
Lesesaal Rechtswissenschaften. Foto: TIB/H. Schugt
Tisch, auf dem ein Notebook steht, mit vier Stühlen.
Arbeitsplatz im Erdgeschoss der Bibliothek. Foto: TIB/H. Schugt

Was leider viel zu selten genutzt wird, ist der ebenerdige Arbeitsraum samt Spezialtechnik für Menschen mit Seheinschränkungen. Die Ausstattung umfasst

  • einen Windows-Rechner: installiert ist die Fusion-Software, bestehend JAWS ZoomText zur Sprachausgabe und Vergrößerung von Inhalten,
  • eine Braillezeile: die dazugehörige Software interpretiert den gewünschten Text auf dem Monitor und gibt ihn sensorisch in Blindenschrift auf der Braillezeile wieder,
  • ein Kameralesesystem mit integrierter Textvergrößerungs- und Vorlesefunktion und
  • einen Brailledrucker (im Schallschutzkasten).

Der Raum ist abschließbar. Er bietet eine ruhige Arbeitsumgebung.

Raum mit zwei Schreibtischen, auf denen Bildschirme stehen.
Arbeitsraum für Menschen mit Seheinschränkungen. Foto: TIB/H. Schugt

Eine mit Piktogrammen angereicherte Etagenübersicht hilft bei der Orientierung. Im Erdgeschoss finden sich zwei barrierefreie Sanitäranlagen.

Wegweiser, der zeigt, auf welcher Etage sich welche Fachbibliotheken befinden.
Orientierungsplan. Foto: TIB/H. Schugt

Drei Fahrstühle – mit Handlauf, ohne Sprachausgabe – führen auf die Stockwerke.

Blick in einen Fahrstuhl durch die geöffnete Fahrstuhltür.
Fahrstuhl. Foto: TIB/H. Schugt

Auch wenn Printbestände ausgelagert werden, um mehr Platz für zum Lernen und Schreiben zu schaffen, türmen sich die Bücher in den über zwei Meter hohen Regalen. Menschen in Rollstühlen, mit Kinderwagen oder auf Krücken haben gerade genug Platz, um durch den Gang zu kommen. Platz zum Wenden gibt es nicht, und selbst zwei Menschen ohne Mobilitätsprobleme müssen sich beim Stöbern aneinander vorbeiquetschen.

Ein Mann geht durch einen schmalen Gang zwischen zwei hohen Bücherregalen.
Bücherregale im Lesesaal Erziehungswissenschaften. Foto: TIB/H. Schugt

Die Ausleihautomaten lassen sich per Knopfdruck auf die gewünschte Höhe einstellen. Menschen mit einer Schwerbehinderung erhalten nach Vorlage eines entsprechenden Nachweises eine längere Ausleihfrist.

Ein Mann steht mit einem Buch an einem Selbstverbuchungsgerät in der Bibliothek und entleiht ein Buch.
Selbstverbuchungsgerät. Foto: TIB/H. Schugt

Neuerdings lassen sich TIB-Bestände auch an die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek (GWLB) per Online-Formular liefern bzw. GWLB-Bestände an den TIB-Standort Conti-Campus.

Leihstelle mit langem Tresen.
Die Leihstelle im Erdgeschoss der Bibliothek. Foto: TIB/H. Schugt

Wir haben uns in Corona-Zeiten an Lieferservices gewöhnt. In Bibliotheken müssen Bücher persönlich aus dem Regal genommen und Bestellungen abholt werden. Was das Zurückbringen von Medien betrifft, bietet das Hannoversche Online-Bibliothekssystem (HOBSY) eine bibliotheksübergreifende Rückgabe von Entleihungen an. Ein Abgabeort spart schon mal Zeit und Anreise.

Unser Fazit

So endet unsere Bibliothekstour. Gerade weil dieser kurze, oberflächliche Einblick einige mobile Hürden (Rangiermöglichkeiten, Türöffner) sowie Verbesserungspotenzial (unterfahrbare, höhenverstellbare Möbel) aufzeigt, ist es naheliegend, die Tour mit Menschen zu wiederholen, die akut mit solchen Barrieren zu kämpfen haben, und Expert:innen hinzuzuziehen. Außerdem sollte die Perspektive von Menschen mit Seh-, Hör- und geistigen Leistungseinschränkungen einbezogen werden. Mögliche Themenfelder, die nicht nur bei den nächsten Baumaßnahmen berücksichtigt werden können, und zu untersuchende Fragestellungen sind beispielsweise Aspekt wie:

  • taktile Leitsysteme
  • Induktionsanlagen, Induktionsschleifen im Benutzungsbereich
  • (Wie) Lassen sich die wichtigsten audio-visuellen Informationen auch mit Untertitel, Gebärdensprache (in Englisch und Deutsch), Piktogrammen vermitteln – nicht nur auf der Website?
  • Wie sieht es mit Lautsprecherdurchsagen aus? Besteht die Möglichkeit, akustische und optische Signale zu nutzen? Neben Menschen mit Höreinschränkungen nehmen Personen mit Kopfhörern diese eventuell auch nicht wahr, insbesondere in Notsituationen

Dieser Artikel entstand im Austausch mit vielen Kolleg:innen aus der TIB, die auch darauf hinwiesen haben, dass eine Bestandsaufnahme der anderen TIB-Standorte ebenfalls lohnenswert ist.

Und zum Schluss ist uns ein Punkt noch sehr wichtig: Wir wollen nicht nur über Barrierefreiheit an der TIB schreiben, sondern auch miteinander ins Gespräch kommen – schildern Sie uns gerne Ihre Eindrücke, geben Sie uns Feedback und zeigen Sie uns Verbesserungspotenzial!

... arbeitet im Team Auskunft am TIB-Standort Conti-Campus.