Schattenprojektionen – anschauliche Physikgeschichte zum Welttag des audiovisuellen Erbes 2022

read this article in english

Alljährlich wird am 27. Oktober der von der UNESCO ausgerufene „World Day for Audiovisual Heritage“ begangen – im Jahr 2022 ganz besonders unter dem Motto „Enlisting documentary heritage to promote inclusive, just and peaceful societies”  in Zusammenhang mit dem 30-jährigen Jubiläum des Memory of the World Programme. Der Welttag ist aus TIB-Perspektive stets eine passende Gelegenheit, das Filmerbe der Göttinger IWF Wissen und Medien gGmbH (vormals Institut für den Wissenschaftlichen Film – IWF) und dessen Erhalt sowie insgesamt den historischen wissenschaftlichen Film zu würdigen. Letztes Jahr gab es die einzigartige ethnologische Filmsammlung zu entdecken, dieses Jahr gibt es aus besonderem Anlass einen Abstecher in die experimentelle Physik und Physikgeschichte:

Professor Robert Wichard Pohl (1884 bis 1976), vor allem von 1919 bis 1952 an der Universität Göttingen ansässig und tätig, gilt als Pionier der Festkörperphysik und war besonders bekannt für seine Experimentalphysik-Vorlesungen, die auch in vielen Auflagen als Lehrbuch erschien. Sein Lehrkonzept für die Vermittlung von Physik an Schule und Hochschule beeinflusst(e) Generationen, weit über Göttingen, Deutschland und Europa hinaus. So konstruierte Pohl unter anderem spezielle Aufbauten für Demonstrationsversuche, die als (Schatten-)Projektionen an die Hörsaalwand geworfen wurden und entwickelte weitere instruktive Experimente. Eine Vielzahl dieser Versuche wurde in einer eindrucksvollen Videoserie von insgesamt 62 Experimenten unter Herausgeberschaft des IWF am I. Physikalischen Institut der Universität Göttingen unter prominenter Beteiligung von Pohls Sohn Robert Otto, ebenfalls Festkörper-Physiker, mit Originalgeräten in den Jahren 2003 bis 2005 im historischen Hörsaal nachgebaut und wiederholt. Seit Jahren sind diese frei im TIB AV-Portal anschaubar, ob nun jeweils im Einzelvideo oder als zusammengeschnittene Kompilation am Stück.

Pohl-Experiment: Stabilisierung mit Hilfe eines Kreisels
Beispiel: Robert Otto Pohl und Klaus Lüders zeigen im Experiment das Phänomen der Präzession – „Stabilisierung mit Hilfe eines Kreisels“ (2003). IWF-Video: https://doi.org/10.3203/IWF/C-14829

Die Videos, welche die Experimentierfreude und Anschaulichkeit Pohls Lehrkonzepts verdeutlichen, gehören mit teils mehreren tausend Aufrufen zu den beliebtesten im AV-Portal. Das allein ist schon eine Würdigung wert, sind die Experimentvideos selbst ein Zeitzeugnis und audiovisuelles Erbe, noch dazu stehen sie in einer einzigartigen akademischen Lehrtradition. Doch das ist längst nicht alles: Es gelang in jüngster Vergangenheit, diese im AV-Portal mit Lehrbuchkapiteln verknüpften aber doch auch für sich stehenden Versuchsfilme, übrigens verfügbar auch in englischsprachigen Versionen, mit zwei besonderen Dokumentationen über Pohls Leben und Wirken mehr wissenschaftsgeschichtlichem Hintergrund und Kontext zu verleihen. Diese seien hiermit vorgestellt:

Hinter den Schatten – Göttinger Physikvorlesungen in der Tradition Robert Wichard Pohls (2022)

Das in den Jahren von 2020 bis 2022 an der Universität Göttingen durchgeführte Forschungsprojekt „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“ widmete sich einer eindrücklichen Aufarbeitung des Erfolgs des Pohlschen Lehrsystems und der weltweiten Verbreitung und des Einsatzes seiner Versuchsaufbauten bis heute. Unter der Ägide des Wissenschaftshistorikers Dr. Michael Markert wird im ausführlichen projektbegleitenden Blog „Schattenprojektionen“ auch eingehend darüber berichtet, aus welchen Anlass und unter welchen Umständen die bereits erwähnten Experimentvideos Anfang der 2000er Jahre zustande kamen – eine (nicht ganz einfache) Lehrbuch-Neuauflage der „Einführung in die Physik“. Schließlich ist ein fantastischer Dokumentarfilm entstanden, welcher im Zuge des Projektabschlusses im Frühjahr diesen Jahres auch im AV-Portal publiziert worden ist. Der Film legt den „Schwerpunkt auf der Verwendung von Pohl-Ideen und -Apparaten in der modernen Grundvorlesung zur Experimentalphysik in Göttingen. Es wird die Arbeit der Dozent:innen und Hörsaaltechniker vorgestellt und von Ihnen in Interviews kommentiert.“

Beispiel für aktuellen Nachbau eines Pohl-Experiments - Demonstration von Schwingungen im Schattenwurf
Beispiel für aktuelle Verwendung eines Pohl-Experiments an der Uni Göttingen – Demonstration von Schwingungen im Schattenwurf in Dokumentation „Hinter den Schatten“ (2022): https://doi.org/10.5446/55731

Einfachheit ist ein Zeichen des Wahren – Leben und Werk des Physikers Robert Wichard Pohl (2005)

Der von Michael Markert und Sofia Leikam produzierte Film ergänzt hervorragend eine nicht weniger interessante Dokumentation von Ekkehard Sieker über Robert Wichard Pohl, der bereits in der gleichen Zeit, aber unabhängig von den Experimentvideos entstand. In dieser wird unter anderem mit Hilfe wertvollem, zeitgenössischen Bild- und Filmmaterials sowie in Zeitzeugeninterviews Pohls Werdegang, vor allem seine Begeisterung und Bedeutung für die (Göttinger) Experimentalphysik, anschaulich. Originale Bild- und Tonaufnahmen illustrieren auch Pohls Wirkungskontext, etwa die Wichtigkeit und das Ansehen der Universität Göttingen als Wissenschaftsstandort, insbesondere in und für die Physik, indem sich auch Koryphäen wie Max Born und Ernest Rutherford äußern.

Es konnte schließlich mit einigen Mühen, aber erfolgreich vor wenigen Tagen gelingen, Siekers Dokumentation „Einfachheit ist ein Zeichen des Wahren“ ebenso langzeitarchiviert und frei verfügbar im AV-Portal erscheinen zu lassen. Michael Markert, Robert Otto Pohl und Ekkehard Sieker ermöglichten unter anderem als Hinweisgeber und „Türöffner“ Kontakte zu an der Dokumentation beteiligten Personen bzw. zu deren Nachkommen, um die notwendigen Veröffentlichungsrechte zu klären. Dankeschön!

Ausschnitt aus einer Pohl-Vorlesung und demonstration aus dem Jahre 1952 in der Dokumentation "Einfachheit ist ein Zeichen des Wahren" (2005)
Ausschnitt aus einer Pohl-Vorlesung mit Experiment-Demonstration aus dem Jahre 1952 in der Dokumentation „Einfachheit ist ein Zeichen des Wahren“ (2005): https://doi.org/10.5446/59397

Michael Markert schreibt im Projekt-Blog treffend:

„In Kombination mit den Versuchsfilmen, historischen Aufnahmen und dem Dokumentarfilm entstand so kurz nach der Jahrtausendwende – und kurz vor Auszug der Göttinger Physik aus dem schon von Pohl genutzten Gebäude – nicht nur eine medial erweiterte Neuauflage der „Einführung in die Physik“, sondern ein umfassendes Dokumentationsprojekt. Mit Demonstrationen wie der zur „Stabilisierung mit Hilfe eines Kreisels“ sicherte es auch solche Aufbauten für die Nachwelt, die selbst in Göttingen schon lange nicht mehr in der Vorlesung gezeigt werden. Vorgeführt mit historischem Equipment im historischen Hörsaal von Lehrenden mit jahrzehntelanger Pohl-Erfahrung ist der Medienverbund nicht nur ein besonders unvermittelter, sondern auch sehr persönlicher Zugang zum Werk Robert Wichard Pohls.

Er, Sofia Leikam und alle Beteiligten haben mit diesem neuen Dokumentarfilm bzw. mit dem gesamten Forschungsprojekt zum besonderen Lehrkonzept den Horizont über das (Nach-)Wirken von Robert Wichard Pohl eindrucksvoll erweitert. Es ist fantastisch, diesen zusammen mit den Experimentvideos und nun ganz neu im AV-Portal auch mit Siekers Doku langfristig und zitierfähig frei zugänglich zu machen. Auf dieses Weise wird wissenschaftliches Filmerbe nicht nur erhalten, sondern bekommt neue Impulse, Wertschätzung und auch Wertschöpfung.

Die Bemühungen um die Dokumentation(en) zeigen wiederholt auch, dass Bewahrung und Zugänglichkeit von historischem (wissenschaftlichem) Film über das technisch-konservatorische hinaus, besonders eine teils langwierige, herausfordernde Klärung von Rechten ist. Das sei an diesem besonderen Tag außerordentlich gewürdigt. Es ist – wieder einmal – eine wunderbare Gelegenheit, den Menschen Dankbarkeit, Respekt, und Hochachtung zu zollen, die in langjähriger und intensiver (Kleinst-)Arbeit den Erhalt, die Erschließung und niedrigschwelligen Zugang zu diesen und weiteren historischen, wissenschaftlichen Filmen ermöglichen und sichern. Vielen herzlichen Dank!

Matti Stöhr arbeitet seit Mai 2020 an der TIB mit Schwerpunkt Wissenschaftskommunikation besonders als Community Manager für das TIB AV-Portal. Vor allem mit Kontext (wissenschaftlicher) Film und Medien entwickelt und realisiert er im Team Projekte und wirkt in einigen Gremien mit, unter anderem im Arbeitskreis Filmbibliotheken.