Position beziehen: Zur Zukunft des wissenschaftlichen Publikationswesens in der Physik

Anfang Dezember hat die Deutsche Physikalische Gesellschaft DPG ihre neueste Stellungnahme, ein Positionspapier zur Zukunft des wissenschaftlichen Publikationswesens veröffentlicht.

Ich habe mich über das Positionspapier sehr gefreut, da damit ein Thema, das in der DPG sowohl im Vorstand durch die Vorstandsmitglieder Publikationen der letzten Jahre aber auch auch in den Sitzungen der Arbeitsgruppe Information AGI schon lange bewegt wurde, einen für die Öffentlichkeit konkret sichtbaren Ausdruck gefunden hat. Ende Oktober 2019 hatte der Vorstand der DPG zu einem gleichlautenden Workshop nach Bad Honnef eingeladen, das Protokoll des anregenden und angeregten Austausches ist auf den AGI-Seiten zu finden. Dann kam SARS-Cov-2 …

Die als Einleitung dem Paper vorangestellte Zusammenfassung liest sich vielversprechend:

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) vertritt beim wissenschaftlichen Publikationswesen das Ziel, Forschungsergebnisse universell zugänglich zu machen, innovative und qualitätssichernde Publikationsmodelle zu fördern und eine transparente Kostenstruktur herzustellen. Um die Freiheit der Wissenschaft zu realisieren und zu maximieren, soll das anzustrebende Publikationswesen „von Wissenschaftlern für Wissenschaftler“ geformt werden: Entscheidungskompetenz und Verantwortung sollen wieder stärker von den Forschenden übernommen werden.

Entscheidend für die Zukunft des Publikationswesens in der Physik ist aus meiner Sicht nun, wie konkret und wie ernsthaft die in vier Eckpunkte gegliederten Positionen umgesetzt werden und welche Akzeptanz diese bei Physiker:innen im Forschungsalltag mit all seinen Randbedingungen finden. Als Fachreferentin für Physik habe ich wahrscheinlich zu hohe Ansprüche, die nicht immer einer breiten Community zu vermitteln sind, insbesondere bei denjenigen, die sich mit den aktuellen Entwicklungen der Publikationslandschaft wenig beschäftigen. Meiner Einschätzung nach hat das Positionspapier den Anspruch konsensfähig zu sein, weshalb ich es in vielen Punkten für zu vage halte. Ich hatte mir eine konkretere Handreichung mit stärkerem Aufforderungscharakter gewünscht.

Trotzdem werden in den Eckpunkten des Papiers wesentliche Punkte angerissen, die hoffentlich dazu führen, dass viele DPGler:innen ihr eigenes Publikationsverhalten überdenken und eventuell nachjustieren:

Allgemeine Zugänglichkeit (Open Access):

Open Access wird als wesentliches Mittel für die von der DPG geforderte allgemeine Zugänglichkeit zu Forschungsergebnissen gesehen. Dennoch sollte Open Access nicht um jeden (von Verlagen vorgegebenen) Preis umgesetzt werden, stattdessen werden verlagsunabhängige Alternativen genannt, wie z.B. die nachhaltige und stabile Finanzierung von nicht-kommerziellen Open-Access-Plattformen durch Forschungsförderer. Die publizierende Community und ihre Förderer sollten außerdem die archivierte last submitted version eines Artikels als dessen Open-Access-Version anerkennen und dies entsprechend bei Verlagen vertreten. (Wie hier die Realität aktuell aussieht, lässt sich am Beispiel der Modalitäten der Selbstarchivierung auf arXiv sehen, ein echter Dschungel an Bestimmungen, den die Verlage auch gerne beliebig ihren aktuellen Geschäftsmodellen entsprechend anpassen …)

Kosten- und Datentransparenz bei Verlagen:

In den letzten Jahren hat sich die Einstellung der Wissenschaftler:innen gegenüber den Verlagen – gerade auch vor dem Hintergrund der Entwicklung von Open-Access-Geschäftsmodellen und der fortschreitenden Digitalisierung mit all ihren Möglichkeiten (SCOAP3) – verändert. Nicht mehr das Verlagsprodukt (früher die gedruckte Zeitschrift), sondern die Verlagsdienstleistungen stehen im Vordergrund der Aufgaben, die Verlage für die Wissenschaft übernehmen.

Für diese Dienstleistungen fordert das Positionspapier mehr Transparenz:

  • zu Kosten und Preisstrukturen
  • zu bibliometrischen und Nutzerdaten

Dass Open-Access-Transformationsverträge wie DEAL zur geforderten Kostentransparenz beitragen, wird durch die DPG begrüßt.

Obwohl sich Verlage sich immer noch gerne als uneigennützige Partner der Wissenschaft darstellen. werden ihre Praktiken nach meinen Beobachtungen zunehmend kritisch gesehen:

  • So lässt sich auch den wohlwollensten Physiker:innen nur schwer vermitteln, wie sich eine Preisspanne bei Open-Access-Gebühren von z.B. 9.500€ (Nature) über 1.715€ (New Journal of Physics) pro Artikel hin zu 77€ pro Seite (Atmospheric Chemistry and Physics) möglich ist. Das Renommee der Zeitschrift in Form des Impact Factors, das gerne als Grund herhalten muss, kann nicht wirklich so einen großen Einfluss auf die angebotenen Kerndienstleistungen haben. Eher ist wohl anzunehmen, dass hier der Markt den Preis regelt.
  • Ebenso ist schwer zu verstehen, wieso sich Verlage an bibliometrischen und Nutzerdaten bedienen dürfen, um daraus hochpreisige Produkte zu machen und damit den Markt für Forschungsevaluierung zu füttern. Zum Thema Datentracking in der Wissenschaft hat der Ausschuss für Wissenschaftlich Bibliotheken und Informationssysteme der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG im letzten Jahr ein Informationspapier veröffentlicht.

Absenkung der Eintrittsschwelle für neue Akteure und Modelle im Publikationswesen:

Neben der fehlenden Kosten- und Datentransparenz werden die Entwicklungen auf dem Publikationsmarkt von den Autor:innen des Positionspapieres generell mit Sorge beobachtet.

  • Die Marktdominanz weniger Akteure macht einen wirklichen Wettbewerb der Verlage immer unwahrscheinlicher und schwächt zudem die Position der Wissenschaft als Vertragspartner von Monopolisten. In der Physik muss daher der Publikationsmarkt soweit reformiert werden, dass diese Asymmetrie wieder zugunsten der Forscher:innen verschoben wird. (Ob der Publikationsmarkt wirklich ein Markt im klassischen Sinne ist, wird angesichts der Tatsache, dass die Produkte nicht wirklich austauschbar sind, inzwischen diskutiert. Ein schönes Beispiel zu dieser Asymmetrie ist im Bericht „Publizieren ist ein Teil der Forschung“ zu einer 2018 von der AGI veranstalteten Podiumsdiskussion zu finden.)
  • Eine Stellschraube hierfür ist, neuen Akteuren und Publikationsmodellen einen fairen Marktzugang zu ermöglichen. (Welche alternativen Modelle hierzu bereits existieren, habe ich in meinem Beitrag Neue (Publikations)Wege braucht das Land beschrieben.)
  • Dafür „soll die Entwicklung eines Rahmens befördert werden, innerhalb dessen Freiheit, Innovation und Wettbewerb florieren können“.

Aufgaben der wissenschaftlichen Gemeinschaft:

Last but not least kommt die eigentliche Herausforderung: Die Gestaltung der Zukunft des wissenschaftlichen Publikationswesens in der Physik liegt in der Hand der wissenschaftlichen Gemeinschaft! Entweder diese wird aktiv und übernimmt die Verantwortung für ihre ureigensten Interessen oder sie lässt die (Groß)Verlage und damit den Markt darüber bestimmen.

Das Papier nennt dabei insbesondere folgende Punkte, die (aktuell) alles andere als dienlich für die Wissenschaft sind:

  • Einfluss von (wissenschaftsfernen und fachfremden) Editor:innen auf Forschungsinhalte und Karriereentscheidungen
  • Impact Factoren (IF) als Kriterium für die Reputation einer Zeitschrift und damit als Qualitätskriterium für den einzelnen Artikel. (Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst …)
  • Ausdehnung der Marktmacht der Verlage mit prominenten Titeln durch kaskadierendes Durchreichen von Manuskripten zu Titeln mit niedrigerem IF.

Es erinnert damit daran, dass es „allein Aufgabe der Gemeinschaft der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen [sei], sich hierzu zusammen mit der Foschungsförderung positionieren, und ggf. solche Reputationskriterien u.a. aus Berufungsverfahren und Leistungsbewertungen zu eliminieren.“

Prinzipien, die stattdessen gelten könnten, sind im Leiden Manifesto for Research Metrics benannt. DORA, die San Francisco Declaration on Research Assessment, zielt ebenfalls auf eine Verbesserung der Forschungsbewertung. Leider finde ich die DPG nicht bei den Unterzeichner:innen. Vielleicht lässt sich das noch nachholen.

Meine große Hoffnung ist jetzt, dass das Papier einige DPG-Mitglieder zum kritischen Hinterfragen und Überdenken ihres eigenen Verhaltens bringt:

  • Wie möchte ich den Zugang zu meinen Forschungsergebnissen geregelt haben.
  • Wer soll (eigentlich) den Gewinn aus meiner Forschung ziehen, d.h. welchen „Markt“ möchte ich bedienen – Aktionär:innen oder Wissenschaftler:innen?
  • Möchte ich wirklich ein Publikationsmodell mittragen, das danach geht, ob mein Thema „hip“ oder „hot“ genug für eine Veröffentlichung ist?
  • Was wünsche ich mir für die Beurteilung meiner eigenen Forschungsleistung (und damit auch für die Beurteilung der Leistung meiner Kolleg:innen)? Soll diese wirklich alleine über Zahlen erfasst werden, oder finde ich es nicht doch besser, wenn sich eine Kollegin mit meinen Ergebnissen intensiv (lesend) auseinandersetzt und dabei meiner Arbeit Anerkennung zollt?

Das Potenzial dazu hat das Positionspapier. Sollte das gelingen, wäre den Autor:innen ein großer Wurf gelungen.

Wir Bibliothekar:innen können hier eigentlich nur beobachten und im günstigsten Fall mit unseren Diensten, wie z.B. TIB Open Publishing, Universitätsverlagen und lokalen Repositorien begleiten. Der Wunsch nach Veränderung kann nur aus der Wissenschaft kommen.

Denjenigen, die sich intensiver mit der Rolle der wissenschaftlichen Gemeinschaft beim wissenschaftlichen Publizierens im Allgemeinen und einer möglichen Transformation zum Open Access auseinander setzen möchten, seien die im Januar vom Wissenschaftsrat veröffentlichten Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access ans Herz gelegt. Ich halte diese Veröffentlichung für einen guten und umfassenden Statusbericht zum Thema.

... ist Fachreferentin für Physik und zuständig für die Nationale Kontaktstelle im Netzwerk arXiv-DH