„Your Window to the World“ – Ethnologische Filmwelt(en) zum Welttag des audiovisuellen Erbes

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Alljährlich wird am 27. Oktober der von der UNESCO ausgerufene „World Day for Audiovisual Heritage“ begangen – dieses Jahr unter dem Motto „Your Window to the World“. Es ist ein schöner Anlass, ja schon eine Tradition geworden, an diesem Tag nicht nur, aber besonders die ethnologische Filmsammlung aus dem Erbe der IWF Wissen und Medien gGmbH (vormals Institut für den Wissenschaftlichen Film – IWF) zu würdigen. Dieser besondere Bestand wurde im Rahmen des Projektes DELFT – Digitalisierung EthnoLogischer FilmbesTand unlängst – bis Ende des Jahres 2019 – aufwändig digitalisiert. Aus der Projektbeschreibung:

Die ethnographische Filmsammlung des ehemaligen Instituts für den Wissenschaftlichen Film (IWF) ist die größte weltweit und umfasst 1.953 Filme. […]

Der Filmbestand dokumentiert Bräuche und handwerkliche Traditionen sowie (sozio-)kulturelle Prozesse unterschiedlichster Volksgruppen und Ethnien: von der materiellen Kultur, Wirtschaft, Handwerk über die Künste – insbesondere Musik und Tanz – bis hin zu Brauchtum, Ritus, Religion oder Heilkunde. Heute sind dies teils die einzigen filmischen Zeugnisse untergegangener kultureller Ausdrucksformen und ihrer Akteurinnen und Akteure. Bei dem zu digitalisierenden Material handelt es sich um bedeutende Objekte des kulturellen Erbes, welche durch die Digitalisierung für die Forschung und Lehre – in erster Linie in den kleinen Fächern Ethnologie, Anthropologie und Filmwissenschaften – zugänglich gemacht werden.

Auswahl von Standbildern aus der ethnologischen Filmsammlung des IWF
Szenen aus ethnologischen Filmen – Brauchtum, Handwerk, Lebensart

Diese Filme ermöglichen damit im wahrsten Wortsinne Blicke durch das Fenster der Welt, vor allem in vergangene und (fast) vergessene Lebenswelten. Ein kleiner rückblickender Streifzug durch die Blogposts der letzten Jahre ist aus diesem Anlass wirklich lohnens- wie lesenswert. Besonders der illustre Beitrag „Ich genieße die Fiestas und taste mich in Richtung filmische Dokumentation vor“ von Bastian Drees und Miriam Reiche aus dem Jahr 2018 thematisiert beispielhaft und sehr anschaulich die Bedeutung der Sammlung. Dieser würde daher ebenso hervorragend zum diesjährigen „AV-Heritage Day“-Motto passen. Darin ist unter anderem zu lesen, dass die Ethnologische Sammlung, welche insbesondere im Kontext der sogenannten „Encyclopaedia Cinematographica“ steht, Filmkopien enthält, deren Inhalte teils bis zu 100 Jahre alt sind. Umso wichtiger ist ihr Erhalt. Ein frühes Beispiel:

Video-Beispiel aus der IWF-Sammlung ethnologischer Filme: "Indianerkulturen aus dem Grenzgebiet Bolivien-Brasilien" (1936
Snethlage, Emil Heinrich (1936): Indianerkulturen aus dem Grenzgebiet Bolivien-Brasilien. Emil Heinrich Snethlage (Berlin) et al. https://doi.org/10.3203/IWF/B-457. Einblick in das Leben einzelner Stämme wie der Moré, Itoreauhip, Kumaná, Amniapä, Pauserna und der europäisierten Tschikitanos (materielle Kultur, Feste, Tänze usw.). Aufgenommen mit 16 B/s; Vorführgeschw. 18 B/s.

Mit dem Ende des bereits erwähnten DELFT-Projektes war und ist die Arbeit an und mit dem Bestand, im Sinne seines langfristigen Erhalts wie Zugänglichkeit für die Forschung und Interessierte, jedoch nicht abgeschlossen. Im Zuge der Digitalisierung und Rechteklärung ist inzwischen ein Großteil der Filmsammlung im TIB AV-Portal nicht nur recherchierbar, sondern auch direkt online zugänglich – überwiegend jedoch unter speziellen Bedingungen: Die meisten Aufnahmen waren nämlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht, sondern ausdrücklich für die ethnologische Forschung bestimmt. In diesem Sinne werden diese Filmdokumente – soweit rechtlich möglich – fortlaufend im Portal bereitgestellt. Zur Nutzung weiter Teile der Sammlung ist daher aus lizenz- und/oder persönlichkeitsrechtlichen Gründen eine individuelle Freischaltung notwendig. Details bietet dieser Flyer mit dem Formular „Erklärung zur wissenschaftliche Nutzung von durch die Technische Informationsbibliothek bereitgestellten Filmen der Ethnologie“.

Darüber hinaus gehören zu den Aktivitäten der Sicherung des audiovisuellen Erbes der ethnologischen Filmsammlung auch die sogenannten filmbegleitenden Materialien. Neben den Filmen umfasst das umfangreiche Begleitmaterial 300 Aktenordner mit Redaktions- und Produktionsakten, Begleitpublikationen in Form von mehr als 100 Aktenordnern, 3.500 lose Hefte sowie ein Fotoarchiv mit hunderten Fotos, Negativen und Dias. So ist es hocherfreulich, dass die TIB ganz aktuell zum Oktober 2021 eine Förderung für das Entmetallisieren und Umverpacken, erste wichtige Schritte der systematischen Aufbereitung dieser Begleitmaterialien, erhalten hat.

Zwei Beispiele für filmbegleitende Materialien – aufgeschlagene Aktenordner mit Schriftgut und Umschlag mit Fotografien

Außerdem: Die im DELFT-Projekt entwickelten Prozesse und Workflows kommen nicht nur der ethnologischen Filmsammlung, sondern auch der digitalen Aufbereitung und Bewahrung historischer Filmbestände anderer Fachdisziplinen zu Gute. Seit Anfang 2020 werden systematisch bis dato noch analog vorliegende IWF Filmebestände digitalisiert. Inzwischen konnten so 1.200 Filmtitel aus den Fachbereichen Biologie und Medizin, sowie die Filmreihe „Dokumente der Zeitgeschichte“ digitalisiert werden.

Zur tiefergehenden Lektüre sei ein top-aktuelles Konferenzpaper empfohlen, welches jüngst auf der iPRES2021 mit dem Angela Dappert Memorial Award ausgezeichnet worden ist:

Lindlar, Micky, Friedrich, Merle, & Reiche, Miriam. (2021, October 26). When Digital Remembers Analogue – Conservation Metadata for Analogue Film as Preservation Description Information in a Digital Archive. The 17th International Conference on Digital Preservation (iPRES2021), Beijing, China. Preprint und Präsentationsfolien: https://doi.org/10.5281/zenodo.5600878.

Das Paper beschreibt Motivation und Entwicklung des TIB-Metadatenschemas für Befundberichte des analogen Films im Hinblick auf die digitale Langzeitarchivierung. Die hier erfassten Daten helfen, Artefakte im digitalen Film mit Schadstellen im analogen Film in Verbindung zu bringen.

Der Welttag des audiovisuellen Erbes ist daher nicht nur ein schöner Anlass, die Welt(en) der ethnologischen Filmsammlung und des IWF-Filmerbes generell in Erinnerung zu rufen und dazu einzuladen, darin zu stöbern. Vielmehr ist es eine wunderbare Gelegenheit, den Menschen Dankbarkeit, Respekt, und Hochachtung zu zollen, die in langjähriger und intensiver (Kleinst-)Arbeit den Erhalt, die Erschließung und niedrigschwelligen Zugang zu diesen und weiteren historischen, wissenschaftlichen Filmen ermöglichen und sichern. Vielen herzlichen Dank!

Matti Stöhr arbeitet seit Mai 2020 an der TIB mit Schwerpunkt Wissenschaftskommunikation besonders als Community Manager für das TIB AV-Portal. Vor allem mit Kontext (wissenschaftlicher) Film und Medien entwickelt und realisiert er im Team Projekte und wirkt in einigen Gremien mit, unter anderem im Arbeitskreis Filmbibliotheken.