Wie lernen wir in der Zukunft?

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Im Interview: Gábor Kismihók, Leiter der TIB-Nachwuchsforschergruppe „Learning and Skill Analytics“

Wie werden wir in Zukunft lernen? Oder: Wie wird Lernen und Bildung in einigen Jahren aussehen? Denn genau diese Fragen sind es, die Sie mit Ihrer Forschung beantworten wollen.

Gábor Kismihók leitet die TIB-Nachwuchsforschergruppe „Learning and Skill Analytics“

Wir erleben gerade einen radikalen Wandel in der Art und Weise, wie wir lernen und lehren. Mit Hilfe intelligenter Technologien können wir jetzt die Lernerfahrung jedes einzelnen Lernenden personalisieren. Das war früher nicht möglich. Wir können heute eine Reihe von Faktoren aus dem persönlichen Bereich berücksichtigen, wie zum Beispiel die individuellen Ziele, den jeweiligen geografischen Standort, die beruflichen und schulischen Leistungen. Damit können wir jeder und jedem Lernenden eine entsprechende Unterstützung beim Lernen geben.

Dies ist momentan ein sehr spannendes Gebiet, sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus anwendungsorientierter Sicht. Wir wollen in meiner Forschungsgruppe einen Teil mit Methoden und Werkzeugen zu diesem Gedanken beitragen und die weitere Demokratisierung der Bildung unterstützen.

Für diese Arbeit sind verschiedene, sich ergänzende Kompetenzen und Teamarbeit erforderlich. Deshalb haben wir in der Gruppe Expert:innen aus den Bereichen, Informatik, Datenwissenschaft und Statistik. Mein persönlicher Hintergrund ist Wirtschaftsinformatik mit der Spezialisierung auf Informationssysteme im Bereich Lernen und Bildung. Seit ich Mitte der 2000-er-Jahre begonnen habe, mich mit diesem Thema zu beschäftigen (während meiner Doktorarbeit), hat dieser Bereich eine Menge neuer und aufregender Entwicklungen erlebt, von virtuellen Klassenzimmern und anderen digitalen Lernumgebungen bis hin zu den aktuellen Trends der auf künstlicher Intelligenz basierenden Anwendungen. Ich freue mich zu sehen, dass Bildungstechnologien nun täglich von Lernenden und Bildungseinrichtungen genutzt werden und sich, besonders während der Pandemie oft als nützlich und effektiv erweisen.

Ein wirklich spannendes Thema. Welche Chancen und Herausforderungen gibt es dabei?

Ja, in der Tat ein sehr spannendes Thema. Ich glaube, dass unsere Gesellschaften mehr und mehr in die Erforschung der digitalen Lernwelt einsteigen. Das Erreichen individueller Lernziele, die Fokussierung auf persönliche Fähigkeiten und die berufliche Entwicklung, die Bereitstellung qualitativ hochwertiger Bildung für diejenigen, die sich keine teuren Schulen und Universitäten leisten können, aber zum Beispiel Zugang zu einem Mobiltelefon haben, sind Vorteile, die wir immer im Auge behalten sollten.

Allerdings gibt es auch noch eine Vielzahl von Herausforderungen, die wir lösen müssen. Zwei möchte ich hier hervorheben: Bei der ersten geht es um die Erfassung des Kontexts des Lernenden. Das Erkennen, Speichern und Analysieren von Kontextfaktoren beim Lernen in einer offenen und transparenten Form sind noch keine selbstverständlichen Aufgaben. Oftmals erfordern sie die Verwaltung sensibler persönlicher Daten über die Lernenden, daher müssen wir beim Sammeln, Speichern, Analysieren und Visualisieren dieser Daten sehr umsichtig und vorsichtig sein. Das andere ist, das Lernen menschlich zu halten. Lernen muss eine angenehme und persönliche Reise sein, bei der wir oft mit anderen und mit intelligenter Technologie interagieren müssen. Ich denke, eine große Herausforderung, die vor uns liegt, ist es, herauszufinden, wie wir Lernumgebungen schaffen können, in denen wir die menschlichen Aspekte in hochdigitalisierten, auf künstlicher Intelligenz (KI) beruhenden Lernumgebungen bewahren können. Tatsächlich befasst sich eines unserer Projekte genau mit diesem Thema: OSCAR versucht, KI-basierte Lernempfehlungen mit menschlichem Coaching und Mentoring in einer einzigen digitalen Lernumgebung zu verbinden.

Womit beschäftigen Sie sich aktuell in Ihrer Forschung?

Unser Vorzeigeprojekt ist eDoer. Dort wollen wir zeigen, wie KI einzelnen Lernenden helfen kann, ihre berufsbezogenen Fähigkeiten zu verbessern. Dies geschieht durch die Entwicklung offener und transparenter Algorithmen mit anschließender Nutzung der riesigen Menge weltweit verfügbarer Open Educational Resources (OER), freier Lehr- und Lernmaterialien im Internet. Diese OER werden den Lernenden entsprechend ihrer persönlichen Lernpräferenzen vorgeschlagen, sodass sie ihre eigenen Lehrpläne für ihre beruflichen Ziele erstellen können.

Der Prozess ist einfach: Zunächst können die Lernenden mit unserem Empfehlungssystem, ihre Karriereziele festlegen und dann die für ihre Ziele notwendigen Kompetenzen herausfiltern. Danach generieren sie eine Liste von Lernthemen, die sie für die Fähigkeiten, auf die sie sich konzentrieren wollen, beherrschen sollten. Sobald dies geschehen ist, empfehlen wir OER für alle ausgewählten Themen. Dieses wird mit Beurteilungen kombiniert, um den Lernfortschritt zu unterstützen und zu überwachen.

Dieses Projekt bewegt sich im Spannungsfeld zwischen akademischer und angewandter Forschung. Denn um dieses Konzept zum Laufen zu bringen, müssen wir neue Algorithmen und Konzepte entwickeln, wie ein solcher mit künstlicher Intelligenz betriebener Empfehlungsdienst funktionieren und mit den Lernenden interagieren sollte. Unser erster Prototyp ist bereits in Betrieb und kann für Aufgaben aus dem Bereich Datenwissenschaft genutzt werden. Einfach unter http://edoer.eu ausprobieren und Feedback schicken – jede Unterstützung ist mehr als willkommen!

Anfang 2021 sind zwei weitere Projekte dazugekommen, an denen Sie und die TIB beteiligt sind – ADAPT und BIPER. Herzlichen Glückwunsch! Worum geht es in den beiden Projekten?

Danke! ADAPT wird ein hervorragender Anwendungsfall für die eDoer-Plattform sein. Wir werden unser System zur Empfehlung von Lerninhalten für Pflege- und Betreuungsberufe verfeinern, sodass die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, in der Lage sein werden, sich effizient nach ihrem eigenen konkreten Fortbildungsbedarf zu qualifizieren. In diesem Projekt wird die TIB für die Bereitstellung und das Management der intelligenten Trainingsplattform verantwortlich sein. ADAPT wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziert, es wird drei Jahre dauern und wir werden zwei neue Forscher:innen für dieses Abenteuer einstellen.

BIPER ist ein viel kleineres und eher konzeptionelles Projekt: Es wird vom Erasmus-Plus-Programm der Europäischen Kommission finanziert und von der Corvinus-Universität in Budapest koordiniert – die zufällig auch meine Alma Mater ist. In den kommenden 1,5 Jahren werden wir untersuchen, wie wir die aktuellen Lehrpläne im Bereich der Wirtschaftsinformatik weiter personalisieren und digitalisieren können.

Dieses Interview erschien erstmals im TIB-Jahresbericht 2020.

Über Dr. Gábor Kismihók

Dr. Gábor Kismihók leitet die Nachwuchsforschungsgruppe „Learning and Skill Analytics“ an der TIB. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Personalisierung von digitalen Lernumgebungen, die Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf Bildung und Berufsleben, die dynamische Darstellung von Arbeitsmarktinformationen für Bildungszwecke sowie die Nachhaltigkeit von Bildung und Karriere im Kontext der Digitalisierung mit dem Fokus auf Forschungsausbildung und Forscher:innenkarrieren.

Kismihók promovierte 2012 an Corvinus Universitaet Budapest in Managementwissenschaften (Informationsmanagement). Er gründete das Center of Job Knowledge Research an der Amsterdam Business School der Universität Amsterdam (UvA), und leitet die Researcher Mental Health COST Action.  Gábor betreut regelmäßig Doktorarbeiten in den Bereichen Wissensmanagement, Lernanalytik und Datenwissenschaft. Als Koordinator des Eduworks-Projektes FP7 MSCA ITN entwickelte er ein Ausbildungsprogramm für graduierte Student:innen, das umfassende Kompetenzen wie Schreib- und Kommunikationsfähigkeiten, fortgeschrittene statistische Methoden, Kenntnisse zu Forschungsdesign, Datenwissenschaft sowie Programmierung vermittelt.


Beitragsbild von Gerd Altmann auf Pixabay