Graue Literatur etwas weniger grau machen

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Im Interview: Dr. Andreas Lütjen, Leitung der Erwerbung und Katalogisierung an der TIB, über die besondere Bedeutung grauer Literatur

Am 22. und 23. Oktober 2019 findet in Hannover die 21. International Conference on Grey Literature statt, eine renommierte Veranstaltung, die das Thema graue Literatur in den Mittelpunkt stellt. Ein guter Anlass, um mit Dr. Andreas Lütjen, Leitung Erwerbung und Katalogisierung an der TIB – Leibniz Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften, über graue Literatur, ihre Bedeutung und Sichtbarkeit sowie die Rolle der TIB beim Erwerb grauer Literatur zu sprechen.

Lieber Herr Dr. Lütjen, graue Literatur wird häufig definiert als Veröffentlichungen, die nicht im Buchhandel erhältlich und damit oft schwer beschaffbar sind. Die graue Literatur ist ein Spezialgebiet der TIB. Welche Materialen fallen ganz konkret unter den Begriff graue Literatur und warum ist es oft schwer, an sie heranzukommen?

Die TIB erwirbt und erschließt graue Literatur in den ingenieurwissenschaftlichen Fächern sowie Architektur, Chemie, Informatik, Mathematik und Physik und stellt sie Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft zur Benutzung bereit. Dazu zählen Konferenzveröffentlichungen weltweit, deutsche und ausländische Forschungsberichte, ostasiatische und osteuropäische Zeitschriften und Monographien, Hochschulschriften sowie Patentschriften und Normen. Zudem ist die TIB Depotbibliothek für Abschlussberichte öffentlich geförderter Vorhaben verschiedener Bundesministerien – wie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) und dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) – sowie zahlreicher andere Institutionen und Forschungseinrichtungen.

Dr. Andreas Lütjen leitet an der TIB den Bereich Erwerbung und Katalogisierung. Foto: TIB

Für viele Fachkonferenzen wird im Vorfeld nur in den entsprechenden Fachcommunities geworben, was es uns als Bibliothek nicht gerade erleichtert, zu erfahren, wann und wo die Veranstaltungen stattfinden. Für die Erwerbung ist zunächst einmal das Wissen um die relevanten Bezugsquellen wichtig. Dazu kommt ein gewisser zeitlicher Druck, da viele Veröffentlichungen nur in kleiner Auflagenzahl publiziert werden. Hätte die TIB hier nicht bereits vorausschauend vielfach eine sogenannte Standing Order platziert, wäre das entsprechende Werk bereits vergriffen, bevor man es nach dem Erscheinen überhaupt erwerben könnte. Eine Standing Order ist eine Bestellung zur Fortsetzung für eine Konferenzreihe oder eine Bestellung im Voraus für das gesamte Konferenzsortiment einer Fachgesellschaft. Da sich darüber hinaus nicht wenige Fachgesellschaften über den Verkauf ihrer auch dadurch häufig hochpreisigen Publikationen finanzieren, kommt zusätzlich ein nicht unwesentlicher finanzieller Aspekt zum Tragen.

Die TIB ist da in einer glücklichen Lage: Als Deutsche Zentrale Fachbibliothek mit ihrer Bund-Länder-Finanzierung nimmt sie mit der Erwerbung grauer Literatur eine gesamtstaatliche Aufgabe wahr. Das kommt Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft in ganz Deutschland und darüber hinaus zugute. Die dafür erforderliche Investition in das Know-how der TIB-Mitarbeitenden, die über bibliothekarische Spezialkenntnisse bei der Erwerbung und Katalogisierung von grauer Literatur verfügen, sowie in die notwendige Infrastruktur zahlt sich auch deshalb nachhaltig aus, weil die TIB ihren Bestand nicht nur dauerhaft aufbewahrt, sondern ihn selbstverständlich auch frei zugänglich macht: Also das sprichwörtliche große Kapital, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet.

Graue Literatur – etwa in Form von Konferenz- und Forschungsberichten, Gutachten oder auch Diplomarbeiten – beinhaltet wertvolles Wissen, das eine wichtige Informationsquelle für Wissenschaft und Forschung ist. Konferenzberichte enthalten beispielsweise häufig den neuesten Stand eines Forschungsbereichs. Warum wird graue Literatur trotzdem häufig nicht wahrgenommen und wie gelingt es, sie sichtbarer zu machen?

Die TIB leistet einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Sichtbarkeit grauer Literatur: durch die Formalerschließung im K10plus, einer Online-Datenbank mit circa 200 Millionen Bestandsnachweisen, durch die Erfassung von Konferenz-Normdatensätzen in der Gemeinsamen-Normdatei (GND) und durch die DOI-Vergabe (Digital Objekt Identifier) für deutsche Forschungsberichte, die damit auch über DataCite zu finden sind. Dass graue Literatur dennoch nicht häufig genug rezipiert wird, ist auch eine Frage der Erschließungstiefe. Um zu wissen, welche Vorträge auf einer Konferenz gehalten wurden, muss man gegenwärtig noch einen Blick in das Inhaltsverzeichnis eines bereits veröffentlichten Konferenzbandes werfen. Das ist zwar glücklicherweise auch elektronisch möglich, da im Rahmen der sogenanntem Kataloganreicherung sämtliche Inhaltsverzeichnisse flächendeckend digitalisiert und über den K10plus-Katalog im Internet frei zur Verfügung gestellt werden, aber letztlich auch ein wenig umständlich. Die Digitalisierung der Inhaltsverzeichnisse ist aufgrund ihrer geringen Schöpfungshöhe rechtlich möglich. Die TIB möchte über die Bereitstellung digitalisierter Inhaltsverzeichnisse hinausgehen und erprobt gerade in einem Projekt die direkte Erschließung von Konferenzbänden auf Aufsatzebene mit einem semiautomatischen Verfahren. Wir hoffen, den Zugang zur grauen Literatur so wesentlich zu vereinfachen und zu beschleunigen und wollen sie, wenn man es so ausdrücken will, also etwas weniger grau werden lassen.

Um graue Literatur sichtbarer zu machen, unterstützt die TIB zudem seit 2015 die inzwischen in 15 Sprachen und von der TIB ins Deutsche übersetzten Forderungen der Pisa Declaration: Regierungen und Organisationen sollen graue Literatur stärken. Es wird darin gefordert, dass sie sich stärker für Open Access engagieren, hochwertige graue Literatur stärker anerkennen und die Bestandsentwicklung sowie die Langzeitarchivierung grauer Literatur stärker unterstützen.

Für die TIB hat graue Literatur eine besondere Bedeutung: 2018 lag der Anteil grauer Literatur am Gesamtbestand der TIB bei gut 60 Prozent, das ist eine ganze Menge. Warum hat sich die TIB auf graue Literatur aus Technik und Naturwissenschaften spezialisiert und wie geht sie beim Erwerb vor?

Die TIB wurde 1959 mit dem Ziel gegründet „als zentrale technische Bibliothek der Bundesrepublik [,] den besonderen Literaturbedürfnissen der technischen Forschung und der technischen Praxis [zu] dienen“, wie es Wilhelm Grunwald (1909-1989), der erste Direktor der TIB, formulierte. Das war und ist nicht möglich, ohne den Schwerpunkt auf die graue Literatur zu legen. Vor mehr als 60 Jahren wurde von den bibliothekspolitisch handelnden Akteuren erkannt, dass auf diesem Gebiet ein großes Desiderat im kooperativ organisierten System der westdeutschen Literaturversorgung bestand. Die Bibliothek der damaligen Technischen Hochschule in Hannover hatte dabei den Standortvorteil, durch rechtzeitige Bestandsauslagerungen zum Ende des Zweiten Weltkrieges nur wenige Verluste ihres bereits damals schon herausragenden technisch-naturwissenschaftlichen Bestands beklagen zu müssen. Die neugegründete TIB konnte auf einem seit 1831 gewachsenen soliden Bestand aufbauen.

Seit vielen Jahren verfügt die TIB über langjährige Beziehungen zu Fachgesellschaften im In- und Ausland, bei denen sie ihre Standing Orders platziert hat. Durch die Bundesministerien, für die sie Depotbibliothek ist, bekommt sie die deutschen Forschungsberichte als Pflichtzugang. Aber auch hier ist mitunter viel Kommunikation mit den Autorinnen und Autoren beziehungsweise deren Beratung nötig. Oft muss, auch über einen längeren Zeitraum hinweg, beharrlich nachgefragt werden, obwohl die geförderten Zuwendungsempfänger zur Abgabe der Forschungsberichte an die TIB angehalten sind.

Am Beispiel der grauen Literatur, die in den Ländern Ostasiens oder Osteuropas erschienen ist, kommen hier auch entscheidende sprachliche und interkulturelle Kompetenzen der Mitarbeiterinnen in den Erwerbungs- und Katalogisierungsteams zum Einsatz, die für die Regionalreferate Ostasien und Osteuropa langjährig aufgebaut wurden.

Zudem findet durch die sehr gute Zusammenarbeit innerhalb der TIB mit dem Wissenschaftlichen Dienst ein kontinuierliches Monitoring der bereits etablierten und neu hinzugekommenen Konferenzen statt. Gemeinsam unterstützen die Teams der Erwerbung und Katalogisierung, insbesondere das Team „Graue Literatur“ und das Team „Deutsche Forschungsberichte“, das TIB-Projekt ConfIDent. Dabei geht es um die Entwicklung einer Konferenzplattform, „auf der die Metadaten wissenschaftlicher Veranstaltungen dauerhaft zugänglich gemacht und durch automatisierte Prozess[e] sowie fachwissenschaftliche Kuratierung in möglichst hoher Qualität zur Verfügung gestellt werden.“

Das Wort Digitalisierung ist in aller Munde. Bibliotheken spielen eine wichtige Rolle im Digitalisierungsprozess – wie sieht es mit der Digitalisierung im Bereich graue Literatur aus?

Wenn man sich allein den Bestand der deutschen Forschungsberichte ansieht, ergibt sich in den vergangenen 60 Jahren ein Verhältnis von 282.000 gedruckten gegenüber 86.000 elektronischen Forschungsberichten, wobei letztere erst seit der Jahrtausendwende publiziert wurden. Für beide Erscheinungsformen zusammengerechnet ergibt sich für die TIB in diesem Segment eine Quote von circa 90 Prozent Alleinbesitz. Bezogen auf den Gesamtbestand der TIB ist der Anteil an digital verfügbarer Information natürlich noch viel zu klein, sodass hinsichtlich der Rechte, Inhalte digital zur Verfügung zu stellen, noch großer Handlungsbedarf besteht. Man darf hier aber auch nicht vergessen, dass man es bei grauer Literatur vielfach auch mit internationalen Rechteinhabern zu tun hat und man häufig froh sein kann, die Inhalte wenigstens gedruckt anbieten zu können. Dennoch hat sich der Anteil elektronischer Publikationen auch im Bereich der grauen Literatur leicht erhöht. So konnte der Zugang der digitalen deutschen Forschungsberichte, der 2011 noch bei 58 Prozent lag, 2016 auf 80 Prozent gesteigert werden und lag 2018 schließlich bereits bei 88 Prozent.

Zum Schluss noch einmal zur 21. International Conference on Grey Literature, die in Hannover stattfindet. Stichwort Open Access: Der Ruf nach freiem Zugang zu wissenschaftlicher Information wird immer lauter. Open Access und graue Literatur sind auch Thema auf der Konferenz. Wie sehen Sie die Bedeutung von Open Access im Bereich grauen Literatur und was muss getan werden, um den Anteil hier zu erhöhen?

Beim Blick auf die Pisa-Erklärung sehe ich am ehesten im Bereich der Pflichtabgaben sowie bei der Forschungsförderung Möglichkeiten, Open Access stärker zu etablieren. Zudem bietet Open Access den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern selbst die Möglichkeit, ihre Ergebnisse der Fachwelt schnell und barrierefrei bekannt zu machen. Es wäre also besonders hilfreich, wenn mehr Rechteinhaber ihre Ergebnisse unter CC-Lizenzen veröffentlichen würden.

Um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen, möchte ich aber betonen, dass die Aufgaben der TIB im Zeitalter von Open Access nicht aufhören. Es müssen auch zukünftig die für die Wissenschaft relevanten Quellen im Sinne einer bibliothekarischen Sammlung an einem dann virtuellen Ort zentral zusammengetragen werden und über geeignete Rechercheportale zugänglich sein, wie es aktuell mit dem TIB-Portal schon realisiert wird. Gegenwärtig sind dort über 86.000 deutsche Forschungsberichte und 8.518 Konferenzveröffentlichungen recherchierbar und online frei zugänglich. Eine stichprobenartige Untersuchung hat für das Erscheinungsjahr 2017 ergeben, dass die TIB im Fach Architektur deutschlandweit knapp 23 Prozent Alleinbesitz hat. Für die Fächer Werkstoffkunde und Bauwesen sind es sogar 52 Prozent beziehungsweise 58 Prozent. An diesen Zahlen wird die Bedeutung von Open Access für den TIB-Bestand besonders deutlich. Entscheidend ist auch dabei – wie bereits in der Ära gedruckter Information – die nachhaltige Aufbewahrung, für die die TIB auch zukünftig verlässlich Sorge tragen wird. Ein sehr gutes Beispiel dafür sind die Central Europe Workshop Proceedings (CEUR-WS), eine wichtige Ressource in der Informatik. Der Open Access Publisher und Herausgeber CEUR-WS begann 2018 mit der TIB zu kooperieren, um die Langzeitarchivierung seiner Konferenzbände sicherzustellen.