Wie Künstliche Intelligenz die Medizin verändern wird

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Im Interview: Prof. Dr. (Univ. Simón Bolívar) Maria-Esther Vidal über den Einsatz von Big-Data-Technologien im Gesundheitssektor

Sie leiten die Forschungsgruppe „Scientific Data Management“ an der TIB – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften. Schwerpunktmäßig forschen Sie dazu, wie Big-Data-Technologien im Gesundheitssektor genutzt werden können, um die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Woran forschen Sie genau?

Die verfügbare Menge an Big Data ist in den vergangenen zehn Jahren rasant gestiegen und wird in den kommenden Jahren voraussichtlich noch schneller wachsen. Vor allem im Bereich der Biomedizin entstehen durch eine Vielzahl verschiedener Methoden, zu nennen sind hier Flüssigbiopsien, medizinische Aufnahmen oder Genomsequenzierungen, große Datenmengen, in denen neue Biomarker identifiziert werden können. Biomarker sind biologische Merkmale, die im Gewebe oder Blut gemessen werden können und sowohl auf krankhafte Veränderungen als auch auf die Wirkung einer Behandlung hinweisen können.

Prof. Dr. (Univ. Simon Bolivar) Maria-Esther Vidal, Leitung Forschungsgruppe Scientific Data Management an der TIB

Die Ergebnisse der Analyse heterogener biomedizinischer Daten sind die Grundlage für eine präzise Diagnose und effektive Behandlungen. Biomedizinische Daten können jedoch mit verschiedenen Komplexitätsproblemen verbunden sein (Volumen, Vielfalt und Verlässlichkeit), die neue Techniken zur Verarbeitung der Datenbankanfragen (das sogenannte Query Processing) und Wissensgewinnung erfordern, um sicherzustellen, dass genaue Erkenntnisse extrahiert und verantwortungsbewusste Entscheidungen getroffen werden.

Ich untersuche Berechnungsmethoden zur Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus der Komplexität großer Datenmengen ergeben. Insbesondere arbeite ich an der Definition neuartiger Berechnungsansätze, die in der Lage sind, das in großen Daten kodierte Wissen zu nutzen und kritische Aufgaben wie die Big-Data-Integration, das Query Processing in großem Umfang sowie das Data Mining und die Wissensgewinnung zu lösen.

Konkret arbeiten Sie derzeit an zwei Projekten: BigMedilytics – Big Data for Medical Analytics und IASiS – Big Data for Precision Medicine. Dazu kommt noch das Projekt ImPROVit, das kürzlich akzeptiert wurde. Beschreiben Sie bitte kurz, worum es bei den Projekten geht.

Das Ziel der Projekte iASiS, BigMedilytics und ImPROVit besteht darin, wissensgesteuerte Berechnungstools oder Frameworks zu entwickeln, die die Transformation großer Datenmengen in verwertbares Wissen zur Unterstützung der Präzisionsmedizin ermöglichen. In jedem dieser Projekte beschäftigen wir uns mit unterschiedlichen Gesundheitsproblemen.

Bei iASiS konzentrieren wir uns auf zwei lebensbedrohliche Krankheiten: Lungenkrebs und Alzheimer. Ziel ist es, einen Wissensgraphen zu entwickeln, der klinische Daten von Patientinnen und Patienten, die an diesen Krankheiten leiden, integriert und neue maschinelle Lernverfahren zur Vorhersage der Überlebenszeit und der Wirksamkeit der Behandlung nutzt. Auch bei BigMedilytics geht es um Big Data. Das Hauptziel hier ist jedoch die Entwicklung von Technologien im Gesundheitssektor, die eine kostengünstige und qualitativ hochwertige Versorgung ermöglichen, um die Produktivität im Gesundheitswesen zu steigern und den Marktanteil der Anbieter von Big Data in den Bereichen Onkologie, Kardiologie, Radiologie und Krankenhauslogistik zu erhöhen. Beide Projekte werden aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm der Europäischen Union Horizon 2020 gefördert.

ImPROVit wird von der VolkswagenStiftung und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert. In diesem Projekt arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), dem Twincore – Zentrum für Experimentelle und Klinische Infektionsforschung, dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) und der TIB als Partner zusammen. Bei dem Projekt ImPROVit verfolgen wir das Ziel, das Profiling des individuellen Immunsystems einer Patientin oder eines Patienten zu verbessern, um die Auswirkungen von Impfungen, Infektionskrankheiten und Transplantationen zu verstehen. Big Data, Wissensgraphen und maschinelles Lernen bilden die Grundlage für die Erreichung dieser Forschungsziele.

Welche Aufgaben hat die TIB in den Projekten und worin bestehen die besonderen Herausforderungen?

In diesen Projekten leiten wir die Entwicklung wissensbasierter Werkzeuge, die heterogene Quellen, zum Beispiel klinische Aufzeichnungen, Sequenzierungsdaten, wissenschaftliche Publikationen, pharmakologische Daten, in einen Wissensgraphen integrieren können. Diese Werkzeuge basieren auf Ontologien, d.h. Netzwerken von Informationen mit logischen Relationen, um die Bedeutung der integrierten Daten zu beschreiben. Darüber hinaus untersuchen wir Methoden des Query Processing  zur Wissensexploration, außerdem Techniken zur Gewinnung von Wissen, um  unbekannte Muster und Zusammenhänge aufzudecken. Unser Ziel ist es, die besonderen Merkmale einer Patientin oder eines Patienten zu identifizieren, die eine präzise Diagnose und die Verordnung wirksamer Behandlungen ermöglichen. Zu diesen Merkmalen gehört eine Vielzahl phänotypischer und genomischer Merkmale, die aus Krankenakten und aus der Genomsequenzierung gewonnen wurden. Die Herausforderung besteht darin, die geeignetsten maschinellen Lernverfahren zur Identifizierung und zur Nutzung der relevantesten Merkmale zu entwickeln, um ein Behandlungsergebnis genau vorherzusagen. Darüber hinaus unterstützen unsere Techniken das Patientenmanagement während der Behandlung, der Nachsorge und der letzten Lebensphase und tragen dazu bei, die Gesundheitskosten zu senken.

Ein Punkt, der beim Umgang mit Gesundheitsdaten schnell aufkommt: Welche Gefahren – Stichwort Datenschutz – gibt es und wie kann garantiert werden, dass diese Daten nicht missbraucht werden?

Der Umgang mit klinischen Daten erfordert definierte Datenschutzrichtlinien, die bei Verwendung und Verwaltung dieser Daten gelten. Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist eine wichtige Verordnung der Europäischen Union, die den Schutz personenbezogener Daten europäischer Bürgerinnen und Bürger sicherstellt.

Bei iASiS und BigMedilytics werden wir von Ethikberatern überwacht, die uns bei der Einhaltung der DSGVO unterstützen. Darüber hinaus setzen wir auf die Beratung und Anweisungen der Datenschutzbeauftragten der TIB und haben Rechenverfahren entwickelt, die den Datenschutz gewährleisten und ermöglichen. So können wir sicherstellen, dass klinische Daten nicht missbraucht werden und nur entsprechend den Einverständniserklärungen  der jeweiligen Patientinnen und Patienten verwendet werden.

Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: Wie werden Big-Data-Technologien die Medizin und das Gesundheitswesen in zehn Jahren verändert haben?

Die Präzisionsmedizin basiert auf der Erkenntnis, dass sich Individuen genetisch unterscheiden. Individuelle genetische Varianten können folglich die Wirksamkeit allgemeiner Behandlungen negativ beeinflussen. Eine maßgeschneiderte personalisierte Behandlung setzt die Analyse spezifischer Gene voraus, um festzustellen, ob ein bestimmtes Medikament für eine Patientin oder einen Patienten geeignet ist. Allerdings können bei Patientinnen oder Patienten unterschiedliche Mutationen auftreten, die zwar nicht mit einer diagnostizierten Krankheit zusammenhängen, jedoch die Wirksamkeit von Behandlungen oder die Lebensqualität aufgrund der Nebenwirkungen einer Behandlung beeinträchtigen können. Um solche Muster in den individuellen Merkmalen einer Patientin oder eines Patienten zu erkennen, muss ein riesiges Volumen an verfügbaren Daten verarbeitet und in andere Daten integriert werden.

Big-Data-Technologien und Wissensgraphen bilden für diese enormen Datenmengen die Grundlage für die Verwaltung und das Data Mining, also die automatische Auswertung großer Datenmengen zur Bestimmung bestimmter Muster und verborgener Zusammenhänge. Sie ermöglichen die Entwicklung neuer Paradigmen, bei denen Rechenverfahren, Medizinerinnen und Medizinern sowie Patientinnen und Patienten an der ganzheitlichen Diagnose und der Verordnung wirksamer Behandlungen beteiligt sein werden. So können wir in Zukunft erwarten, dass lebensbedrohliche Krankheiten, die jedes Jahr den Tod von Millionen von Menschen verursachen, mit individuellen, maßgeschneiderten Behandlungen bekämpft werden, die die Überlebenschancen und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten erhöhen.