Neue Wege braucht das (Publikations)Land: AGI, ACP und SciPost

Sind Sie Physiker*in und Mitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft? Ja?! Kennen Sie dann die AGI? Nein? Sollten Sie aber. Hinter diesem Kürzel verbirgt sich die (zugegeben) kleine Arbeitsgruppe Information. Bereits seit ihrer Gründung im Jahr 2001 befasst sich die AGI (gegründet als Arbeitskreis AKI – eine Anpassung der Struktur der DPG führte 2009 zur Umbenennung in Arbeitsgruppe) mit Themen der Informationsbeschaffung und –versorgung in der Physik. Schaut man sich aktuelle Diskussionen in der Physik an und vergleicht diese mit den Vortragsthemen auf den Sitzungen der AGI anlässlich der Jahrestagungen der DPG, so kann man die AGI durchaus als Vordenkerin von Themen bezeichnen, die jetzt getriggert durch äußere (politische) Vorgaben so richtig im Wissenschaftsbetrieb ankommen.

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Seit 2016 darf ich neben unserem Sprecher Uwe Kahlert als Stellvertretende Sprecherin an der Arbeit der AGI mitwirken, eine sehr schöne Aufgabe.

Schwerpunkt unseres diesjährigen Programms waren unter dem Titel „New concepts in scientific publishing“ Alternativen zum traditionellen Publizieren in der Physik. Insbesondere die Erfahrungen mit offenen Alternativen zum traditionell geschlossenen Peer-Reviewing standen im Vordergrund bei der Planung der Session. Als Referenten waren hierzu Jean-Sébastien Caux und Ulrich Pöschl eingeladen.

Mit Atmospheric Chemistry and Physics stellte Ulrich Pöschl das überaus erfolgreiche Beispiel der Neugründung einer Open-Access-Zeitschrift mit offenem Peer-Reviewing von und für eine Community vor, die im Gründungsjahr 2001 definitiv ihrer Zeit voraus war, da wesentliche bei ACP umgesetzte Prinzipien von Wissenschaftler*innen in anderen – auch verwandten – Disziplinen heute immer noch diskutiert und hinterfragt werden.

In seinem Beitrag Multi Stage Open Peer Review: Integrating the strengths of traditional peer review with the virtues of transparency and self-regulation berichtete Herr Pöschl nicht nur von dem großen Erfolg (nach 18 Jahren mehr als 10.000 Paper mit über 50.000 Kommentaren) und den Vorteilen der Zeitschrift für Autoren, Referees, Editoren und Leser durch die öffentlichen und damit transparenten Verfahren bei ACP

  • schnelle Publikation
  • frühe Zitierbarkeit
  • direktes Feedback von Referees und Lesern
  • Vermeidung von (versteckten) Verzögerungen
  • Verhinderung von Plagiaten
  • Förderung und gleichzeitige Dokumentation des (öffentlichen) wissenschaftlichen Diskurses
  • Qualitätssicherung bei gleichzeitiger hoher Informationsdichte.

Er ermutigt auch dazu, in Zukunft verstärkt auf Verfahren des Open-Peer-Reviews zu setzen und mit diesen zu experimentieren sowie Open-Access-Publizieren als Basis für Innovationen zu unterstützen. Im Open-Access-Publizieren sieht Herr Pöschl auch das Potential, die aktuell intransparenten Methoden der Messung des wissenschaftlichen Impacts über neu zu entwickelnde Metriken zu überwinden.

In den Fachsitzungen der AGI ist ACP seit seiner Gründung immer mal wieder vorgestellt worden. 2004 war ich zugegebenerweise sehr skeptisch, ob das Modell von Wissenschaftler*innen angenommen würde, bereits 2012 zeigte sich aber, dass ACP in seinen Communities angekommen war, schön, dass sich daran nichts geändert hat – im Gegenteil. Das Erfolgsmodell ACP zeigt sehr deutlich, wie wichtig es für die Akzeptanz einer solchen Initiative ist, dass sie aus einer Community hervorgeht, die dann im Editorial Board und als Autorinnen und Leser dahinter steht.

Diesem Community-driven-Prinzip folgt Jean-Sébastien Caux beim Aufbau der Plattfom SciPost, über deren Entwicklung er in seinem Beitrag Beyond Open Access: SciPost berichtete. Auch Herr Caux ist in erster Linie Wissenschaftler und arbeitet mit seiner Arbeitsgruppe auf dem Gebiet der theoretischen Festkörperphysik an der Universität Amsterdam. Schwerpunkt seiner Arbeiten ist die Physik stark wechselwirkender Vielteilchen-Quantensysteme, für die er nichtstörungstheoretische Modelle entwickelt. Aus seiner Sicht sind für publizierende Wissenschaftler folgende Punkte vorrangig:

  • die Zugänglichkeit der Publikationen
  • die Qualität des Endproduktes
  • die Zweckmäßigkeit des Refereeprozesses
  • die Freiheit, Wissenschaft ehrlich darzustellen (ohne Schönfärberei)
  • die Art der Erfolgsmessung wissenschaftlicher Veröffentlichungen

Störfaktoren für die wissenschaftliche Kommunikation sind entsprechend:

  • Paywalls, Finanzdeals
  • Refereeing, wenn es nicht konstruktiv und nicht hilfreich ist
  • ein Mangel an Expertise bei Editoren und Referees
  • die Verwendung von nichtwissenschaftlichen Kriterien (bei der Beurteilung der Relevanz von Forschung und Veröffentlichungen)
  • wenn das Renommee des Titels eines Journals bei der Beurteilung von Qualität und Bedeutung der wissenschaftlichen Leistung wichtiger ist als der eigentliche Inhalt eines Papers

Viele dieser Punkte habe ich in den letzten Jahren wiederholt von Wissenschafter*nnen als Kritik am existierenden System und Bedarf und Wunsch für zukünftige Entwicklungen gehört. Das Schöne ist aber, dass Herr Caux sie mit SciPost aufgegriffen und dadurch aus einer Es-wäre-ja-schön-Theorie ein ziemlich praktisches Experiment gemacht hat (so wie auch Atmospheric Chemistry und Physics).

Seit 2016 gibt es die Plattform SciPost. Anfangs war für mich noch nicht wirklich erkennbar, wohin die Reise gehen und ob das Experiment von publizierenden Wissenschaftler*innen angenommen würde. Inzwischen ist die Plattform aber so gut strukturiert und ausgereift, dass sie mich überzeugt. Eine wesentliche Komponente ist sicherlich das Editorial College. Hier wird deutlich, dass (echte!) Wissenschafterinnen und Wissenschaftler bereit sind, sich für SciPost zu engagieren und über die Steuerung von Refereeprozessen für die Qualität der Inhalte von SciPost einzustehen. In den letzten Jahren hat Jean-Sébastien Caux eine große Zahl von Kolleg*innen hierfür gewinnen könne, was er selbst darauf zurückführt, dass er sehr penetrant und hartnäckig (bis hin zur Sturheit) sein kann, wenn er ein Ziel verfolgt. (So seine eigenen Worte.)

Durch die Fortschritte in den letzten Jahren ist SciPost zu einem vollständigen Publikationsportal geworden, das alle relevanten Features (vom Einreichungsprozess über das Peer-Review-Verfahren bis hin zur Vorabpublikation der Submissions und der Veröffentlichung des finalen Beitrages und Langzeitseicherung der Inhalte) mitbringt. SciPost wird von Wissenschaftler*innen betrieben und eine Graswurzel-Initiative für alternative Publikationsformen bleiben. Qualität und Offenheit stehen an oberster Stelle der gesetzten Ziele:

  • Umsetzung von echtem Open Access, frei für Leser und für Autoren
  • Trennung von wissenschaftlichen und finanziellen Aspekten, Autoren zahlen keine Article-Processing-Charges (APCs)
  • Modernisierung des Refereeings durch mehr Anerkennung für die Referees und offentliches Feedback nach der Veröffentlichung
  • Reformierung der Bewertung der wissenschaftlichen Relevanz (per Impact Factor)

Schaut man sich nun SciPost als Publikationsplattform an, so fällt – im Vergleich zu Verlagsplattformen – auf, dass es neben dem Journals-Bereich mit

unter dem die finalen Publikationen zu finden sind, eben auch den Bereich Submissions gibt, über den alle Einreichungen (und das ist das Besondere) inklusive der Reports der Referees sowie weiterer Kommentare bereitgestellt werden. Der Refereeprozess ist damit – wie z.B. auch bei Atmospheric Chemistry and Physics – für jeden transparent und nachvollziehbar.

Eine Bemerkung am Rande: Wer regelmäßiger arXiv-Nutzer ist, dem fällt sicherlich auf, dass die fachliche Zuordnung der SciPost-Inhalte entsprechend der arXiv-Disziplinen strukturiert ist. SciPost ist trotzdem kein arXiv-Overlay-Journal sondern hostet als vollständiges Publikationsportal die finalen Paper auf einem eigenen unabhängigen Server. Die Submissions verweisen aber noch auf die entsprechende arXiv-Version. Für mich als Bibliothekarin, die sich auch mit fachspezifischen Systemen der Wissenschaftsrepräsentation (wie z.B. PACS und PhySH) und deren Weiterentwicklungen zu (offenen) Wissensgraphen befasst, ist es besonders interessant, dass SciPost zur fachlichen Beschreibung seiner Inhalte eine Ontologie aufbaut, zu der Wissenschafter*innen die relevanten Begriffe beisteuern.

Zugegeben: Jean-Sébastien Caux zeichnet sich durch eine starke Persönlichkeit aus und kann damit seine Herzensanliegen sehr eindrucksvoll darstellen. Mich hat er aber von seinem (fast schon nicht mehr) Experiment und Anliegen mit SciPost überzeugt, insbesondere, weil es ihm gelungen ist, eine Zahl von Wissenschaftler*innen als Unterstützer für die Initiative zu gewinnen. Das Beispiel von ACP zeigt, dass aus der Community heraus erfolgreiche Alternativmodelle zum traditionellen (verlagsdominierten) Publikationswesen entstehen können, wenn die Wissenschaftler*innen das wirklich wollen.

Wie können Sie also SciPost unterstützen? Am besten sage ich es hier, indem ich den Aufruf von J.-S. Caux wiedergebe:

Wer sich zwischendurch gefragt hat, wie sich SciPost finanziert, wenn es keine APCs gibt, der hat hier die Antwort erhalten: SciPost stützt sich aktuell noch auf Fördergelder und möchte zukünftig ein Modell der institutionellen Förderung etablieren. Als Bibliothek planen wir jetzt, SciPost als Sponsor zu unterstützen.

Wie schön, wenn das auch durch das Feedback eines SciPost-Autors bekräftigt wird, der mir erzählte, dass er gute Erfahrungen mit der Plattform gemacht habe, er dort sicherlich wieder einmal publizieren würde und SciPost auch seinen Kolleg*innen weiterempfehlen könne. Nur mit einer solchen Community können Erfolgsgeschichten geschrieben werden!

... ist Fachreferentin für Physik und zuständig für die Nationale Kontaktstelle im Netzwerk arXiv-DH