Eine monoton steigende Funktion aus dem Tal der Tränen

Einleitung

Das Wintersemester 2018/19 neigt sich dem Ende entgegen und damit für viele das erste Semester des Mathestudiums. Mathematikstudierende des ersten Jahres haben bereits einen Marathon aus Mathevorkurs, O-Phase und den ersten Übungsblättern hinter sich. Erfahrungsgemäß ist der Übergang von der Schulmathematik zur Hochschulmathematik ein beschwerlicher Weg:

  • In der Schule waren die Aufgaben und Vorgehensweisen eng vorgegeben, während im Studium plötzlich die Aufgabenstellung manchmal nicht klar zu sein scheint.
  • Viele Mathematikstudierende hatten gute Noten und sind Fehlschläge oder Kritik nicht gewohnt.
  • Während in der Schulmathematik das Rechnen bzw. die Anwendung mathematischer Methoden im Vordergrund steht, beschäftigt sich die Hochschulmathematik vornehmlich mit dem logischen Aufbau, also Beweisen. Der Unterschied ist im Vorhinein vielen Studienanfänger*innen nicht bewusst.

Innerhalb der ersten Wochen sinkt also bei Vielen die Motivation, während Zweifel an der Wahl des Studienfaches steigen. So ist es wenig verwunderlich, dass Mathematik eine der höchsten Abbruchquoten hat. Mit diesem Beitrag wollen wir diese Entwicklung beleuchten und Mut machen, die Flinte nicht allzu schnell ins Korn zu werfen. Dazu gehen wir auf den Bruch zwischen Schul- gegenüber Hochschulmathematik ein. Wir erläutern ein paar Besonderheiten des Mathematikstudiums. Anhand der Dissertation von Michael Liebendörfer, der zur Motivationsentwicklung im Mathematikstudium geforscht hat, untersuchen wir, wie sich Mathestudierende, auch Lehramtsstudierende, im Studium neu orientieren müssen und wie sie sich dabei fühlen. Schließlich versuchen wir, die Motivation mit ein paar Tipps wieder zu befördern. Drei wichtige Ergebnisse zusammengefasst lauten:

  1. Frustration ist ein erklärter Vermittlungsgegenstand im Mathestudium.
  2. Ihr seid nicht allein.
  3. Spätestens ab dem 3. Semester geht es aufwärts.

Schulmathematik vs Hochschulmathematik

Fragt man unter angehenden Studierenden der Mathematik, was sie dazu bewogen hat, sich für das Studienfach zu entscheiden, lautet eine häufige Antwort, dass Mathe in der Schule schon Spaß gemacht habe, was in der Regel mit guten Noten belohnt worden sei. Die meisten kommen also nicht nur mit einer durch die Schule geprägte Vorstellung vom Fach an die Universität, sondern auch mit einem Selbstbewusstsein, welches von der Hochschullehre bewusst in Frage gestellt werden soll.

Während die Schulmathematik oft rezeptartige Lösungen für anschauliche  Probleme in Form von Rechnen vermittelt, beschäftigt sich die Hochschulmathematik mit abstrakten Konzepten, die höchstens mittelbar mit einer Anwendung in Verbindung gebracht werden können, und streng formallogischen Zusammenhängen folgen, wobei Logik in der Mathematik ein viel strengerer Formalismus als im Alltag ist. Allein die intuitive Alltagslogik von der mathematischen Logik und ihrer stringenten Anwendung zu unterscheiden, bereitet beim Übergang von der Schule zur Uni Schwierigkeiten. Wo früher gerechnet wurde, wird nun logisch abgeleitet. Die Schule jongliert mit Zahlen, die Uni mit Buchstaben fast aller bekannten Alphabete. Vor allem wird in der Schule meist nur der naturwissenschaftliche Aspekt, die mathematische Modellierung von Gegenständen und Phänomenen dargestellt. Die Hochschulmathematik löst sich davon und kreist im Elfenbeinturm erst einmal um sich selbst: Was setzen wir als unumstößliche Wahrheit fest (ohne Ableitung aus der Realität)? Das nennen wir Axiome. Was leiten wir aus diesen atomaren Wahrheiten durch logische Operationen ab? Theoreme, Lemmata, Korollare. Und wie benennen wir auftauchende oder benötigte Konzepte? Definitionen. Dieses scheinbar starre Gedankenkorsett begegnet uns vor der Uni selten, und es dauert einige Monate oder Jahre, bis wir darin souverän denken können, ähnlich einer Fremdsprache. Außerdem ist die kreative Suche nach Ableitungsschritten in der Hochschulmathematik viel freier als das algorithmische Abarbeiten beim Schulrechnen, sodass viele Studierende sich hilflos fühlen, wie eine gestellte Aufgabe überhaupt angegangen werden könne.

Auch das didaktische Vorgehen unterscheidet sich: Während in der Schulzeit Mathematik noch im Unterricht durchdrungen und begriffen werden kann, provoziert die Hochschullehre zunächst Verständnislücken sowohl im Umgang mit dem Handwerkszeug als auch bei den Inhalten. Auch in der Nachbereitung ist es unüblich, dass alles verstanden werden kann. Die Befriedigung, etwas wirklich begriffen zu haben, stellt sich mitunter erst nach einem Jahr des Mathematikstudiums ein.

Besonderheiten des Mathematikstudiums

Der Kulturschock findet nicht nur beim Übergang von der Schule zur Uni statt. Die Mathematik ist auch im Fächervergleich ein Paradiesvogel. Kreidetafeln und Frontalunterricht wirken antiquiert, haben sich aber bisher für die Hochschullehre bewährt (und wurden sogar schon scherzhaft als Weltkulturerbe spekuliert).

Dass Mathe abgehoben daherkommt, liegt auch daran, dass sie schwerlich als Party-Small-Talk oder für den Wochenendbesuch bei den Eltern taugt. Die Ausprägung einer Déformation professionnelle, um sich mit dem Fach und den Mitstudierenden zu solidarisieren, tut ihr Übriges.

Überraschenderweise lässt sich das Fach gut mit einem Handwerk vergleichen, bei dem das stumpfe Auswendiglernen nur begrenzt weiterhilft, wichtig ist das Üben. Und selbst die aktive Beschäftigung muss erst erlernt werden und kann weniger als bei anderen Fächern aus Allgemeinwissen heraus improvisiert werden.

Motivationsentwicklung im Mathematikstudium im ersten Studienjahr

Der Mathematiker Doktor Michael Liebendörfer hat am Kompetenzzentrum Hochschuldidaktik Mathematik, an dem auch die Leibniz Universität beteiligt ist, über die Motivationsentwicklung im ersten Studienjahr seine Doktorarbeit geschrieben. Worum es genau geht, was er herausgefunden hat und was man als „Ersti“ daraus lernen kann, erzählt er uns im Interview selbst.

Frage: Wie hast du dein erstes Studienjahr erlebt?

Ich hab’ für mich ein Gefühl entwickelt, was es heißt ‘Ich hab’s verstanden’.

Frage: Was untersuchst du in deiner Doktorarbeit?

Internationaler Befund: Wer Mathe studiert, hat am Anfang eine Frustphase.

Frage: Wie bist du darauf gekommen?

Ich wollte eine Relevanz spüren.

Frage: Was passiert beim Übergang an die Uni?

In Mathe ist Genalität ein schönes Thema, aber drei viertel ist Schweiß und Arbeit, und das muss man am Anfang lernen.

Frage: Welche Unterschiede hast du zwischen Lehramtsstudierenden und Mono-Studierenden herausgefunden?

Lehramtsstudierende haben nur halb so viel Spielzeit.

Frage: Hast du Geschlechterunterschiede betrachtet?

Frauen sind genauso gut in Mathe.

Manchmal fehlt es Frauen, sich zuzutrauen, genial zu sein.

Mathe als Fach ist völlig geschlechtsneutral.

Frage: Welche Tipps hast du für Erstis?

Versucht das Spiel mitzuspielen!

Frage: Welche Tipps hast du für Lehrende?

Hat jemand eine Überforderung?

Die gleichen Sachen anders ausdrücken.

Tipps für Matheerstis

  • Im ersten Jahr sind viele Matheerstis zuweilen frustriert und verzweifelt. Wenn man sich bewusst macht, dass es dazu gehören soll, lässt es sich leichter aushalten, bis die Erfolgserlebnisse kommen.
  • Sich an Erfolgsmomenten bewusst erfreuen. Sie weisen in die richtige Richtung.
  • Von Anfang an am Ball bleiben.
  • Mit anderen austauschen und zusammenarbeiten; mit den KommilitonInnen, den TutorInnen, den DozentInnen, der Fachschaft.
  • Divide & Conquer: Das Problem in kleine Schritte zerlegen, die leichter zu bewältigen sind.
  • Veranschaulichungen und Beispiele suchen und mit ihnen herumspielen. Ein Satz ist meist eine Hypothese, die aus solchen Spielereien entsteht.
  • Nicht an Irrwegen und Sackgassen verzweifeln. Das wird im Studium zwar nicht deutlich gesagt, aber der Mülleimer ist des Mathematikers bester Freund. Auf einen Erfolg kommen viele Niederlagen.
  • Üben, üben, üben (es hilft nix)!
  • Und wer letztlich keinen Spaß daran entwickeln kann: Wir Mathematiker und Mathematikerinnen verlieren dich ungern, aber am wichtigsten ist, dass du Freude und Sinnstiftung an deiner Studienzeit erfährst.

Viel Erfolg bei den anstehenden Übungsblättern und Klausuren

Wer Mathematik studiert, hat sich beileibe kein einfaches Fach ausgesucht. Doch wer sich durchwühlt, erlebt auch eine erhebende Persönlichkeitsentwicklung. Die Mathematik wird mit dem Verständnis der Zusammenhänge atemberaubend schön, und der eigene Charakter wird durch Geduld, Hartnäckigkeit und Kreativität gebildet. Um mit Michael Liebendörfers Worten zu schließen:

Alle, die das geschafft haben, sind hinterher in der Regel beruflich ziemlich erfolgreich; kriegen schöne und gut bezahlte Jobs.

Viel Erfolg!

Literatur und Quellen

Die Arbeit an dem Thema und mit Michael Liebendörfer war für uns ein schönes Erlebnis, sodass wir die Idee, greifbare Forschungsthemen von LUH-Promovierenden vorzustellen ausweiten möchten. In der folgenden Serie What’s Up, Doc? befragen wir ehemalige LUH-Doktorandinnen und –Doktoranden zu ihren Themen und ihrem Lebensabschnitt als Nachwuchswissenschaftlerin oder -wissenschaftler.