Desaster für die Wissenschaft? Kritische Punkte in der Berichterstattung zu „Predatory Journals“

„Fake Science“, „Lügenmacher“, „Desaster für die Wissenschaft“, „Angriff auf die Wissenschaft“ – ein Wissenschaftsskandal ersten Ranges hat im Juli Deutschland erschüttert, wenn man den Schlagzeilen der Medien glauben darf. Eine Gruppe investigativer Journalist/innen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung hat in aufwändigen Recherchen ein Problem aufgedeckt, das seit Jahren bekannt ist (wenn auch nicht unbedingt in der Öffentlichkeit und nicht in allen Bereichen der Wissenschaft) und von Bibliotheken und Wissenschaftseinrichtungen regelmäßig thematisiert wurde. Auch in den Medien wurde das Thema immer wieder aufgegriffen, insbesondere, wenn wieder einmal eine besonders originelle Nonsens-Studie von einer dubiosen Zeitschrift akzeptiert wurde. Bisher aber eher mit amüsiertem Unterton als mit „Skandal“-Rufen.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. In anderen Medien und Blogs wurde rasch Kritik laut, betroffene Universitäten und Forschungseinrichtungen haben Stellungnahmen veröffentlicht. Auch uns ist beim Schauen und Lesen der Medienberichte Verschiedenes aufgefallen, was wir hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit thematisieren wollen.

5000 Wissenschaftler

„5000 Wissenschaftler in Deutschland haben in Fake Journals veröffentlicht,“ hieß es. Einzelne Einrichtungen, die besonders zahlreich in fragwürdigen Zeitschriften publiziert haben, wie das Produktionstechnische Zentrum der Leibniz Universität Hannover (PZH), wurden an den Pranger gestellt, viel mehr erfuhr man aber nicht über die 5000. Dass sich die Zahl auf einen Zeitraum von zehn Jahren bezieht, wurde erst später nachgereicht. Dass aus Datenschutzgründen keine Namen veröffentlicht wurden, ist nachvollziehbar. Man hat sich aber offenbar wenig Mühe gegeben, diese Zahl weiter, etwa nach Fachgebieten, aufzuschlüsseln oder zu ergründen versucht, ob ganz bewusst in fragwürdigen Zeitschriften publiziert wurde oder ob dies aus Unwissenheit geschah. Es drängt sich auch die Frage auf, warum man so auf die Zahl der Wissenschaftler/innen anstatt auf die Zahl der Publikationen fixiert war. In den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern kann ein Zeitschriftenartikel leicht zehn oder mehr Autor/innen haben. Die Anzahl der fragwürdigen Publikationen, erst recht in Relation zur Gesamtzahl, wäre wesentlich aussagekräftiger gewesen. Von der „groß angelegten Analyse“ erfährt man auch sonst recht wenig. Es wird von einem „rasanten Anstieg von Publikationen [in fragwürdigen Zeitschriften] durch Autoren deutscher Hochschulen und Institute“ berichtet, belegende Zahlen sucht man hingegen vergeblich.

Was der NDR nicht gemacht (oder nicht veröffentlicht) hat, das hat Markus Pössel in seinem Blog nachgeholt. Seine Analysen haben gezeigt, dass das Problem recht unterschiedlich auf die Fachgebiete verteilt ist. Der Großteil der Artikel stammt aus den angewandten Wissenschaften wie Agrarwissenschaft, Umweltwissenschaften oder Materialwissenschaften, die Grundlagenforschung ist kaum betroffen. Rund 90 % der Autor/innen tauchen ein einziges Mal auf, einige wenige stechen mit sehr vielen Publikationen bei fragwürdigen Verlagen hervor. Das kann man dahingehend interpretieren, dass der Großteil tatsächlich unwissend in die Falle getappt ist und den Fehler nicht wiederholt hat, ein kleiner Teil aber möglicherweise ganz bewusst dort publiziert. Unter dem zweiten Teil finden sich relativ viele Personen mit nicht-existenten Affiliations, Privatadressen oder aus der Industrie, also von außerhalb des etablierten Wissenschaftsbetriebs.

„Fake Science“ ≠ Predatory Publishing

Schon Ende Juni wurden deutschlandweit Uni-Leitungen mit Fragen zu „Predatory Conferences“ konfrontiert. (Auch bei uns ist so eine Anfrage gelandet.) In den Ankündigungen der TV-Sendungen wurde auf einmal „Fake Science“ daraus, was nicht nur uns verwirrt hat. Der deplatzierte Begriff wurde auch sogleich und zu Recht als schädlich und problematisch kritisiert. In einer Stellungnahme geht der NDR auf die Kritik an der Wahl des Schlagwortes „Fake Science“ ein, rechtfertigt sich dafür: Man habe die „journalistische Pflicht“ einer „sorgsamen Abwägung und einer ruhigen Sprache“ erfüllt und äußert Verständnis dafür, dass sich viele Wissenschaftler angegriffen fühlten. Aber darum geht es nicht. Das Problem mit dem Begriff „Fake Science“ ist nicht, dass sich ehrliche Forscher inkriminiert fühlen könnten, sondern dass „Predatory Publishing“ und „Fake Science“ zwei unterschiedliche Probleme sind, die hier zusammengeworfen wurden. „Doch was sind die allermeisten Publikationen von Raubverlagen anderes als falsche oder gefälschte Wissenschaft?“ hieß es auch in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung. Ein Beleg für diese Aussage wurde allerdings nicht geliefert. Stichproben legen nahe, dass die meisten Artikel in Predatory Journals vermutlich ernsthafte Wissenschaft enthalten, wenn auch von unterdurchschnittlicher bis fragwürdiger Qualität und Relevanz, aber keine gezielten Fälschungen. Wie schon im ersten Beitrag dieser Blogreihe dargelegt, sagt der Ort einer Publikation nicht unbedingt etwas über ihre Qualität aus. Nicht alles, was in einer fragwürdigen Umgebung erscheint, ist automatisch schlechte Wissenschaft. Umgekehrt erscheinen vorsätzlich gefälschte Studien auch und ganz besonders in renommierten Zeitschriften. Peer Review kann zwar Nonsens, aber keine geschickt gemachten Fälschungen entlarven.

Missverständnisse, wie Wissenschaft funktioniert

„Ein strenger Prozess bestimmt darüber, ob etwas als bewiesen gilt. Er ist international anerkannt und immer gleich.“ So lautete eine Aussage in der ARD-Sendung „Fake Science – Die Lügenmacher“, gemeint war das Peer Review. Wie schon im Blogbeitrag zum Peer Review beschrieben, ist der Prozess aber keineswegs immer gleich. Einerseits gibt es verschiedene Arten von Peer Review, andererseits hängt der Prozess stark von den Gutacher/innen ab, die auch nur Menschen sind: Hatten sie einen guten Tag, schrieben sie das Gutachten im Stress, sind sie Freunde oder Konkurrenten der Autor/innen (beides sollte natürlich nicht der Fall sein, kann aber nicht immer vermieden werden)? Und etwas für „bewiesen“ erklären kann (und will) Peer Review schon gar nicht. Um bei dem Film zu bleiben: Das darin thematisierte fragwürdige Krebsmittel GcMAF wurde in der Tat mit manipulierten Studien in Predatory Journals beworben und erhielt damit für Laien einen wissenschaftlichen Anstrich. Allerdings erschienen auch zwei Studien zu GcMAF in seriösen Zeitschriften (bei Springer bzw. Wiley), die offenbar durch das Peer Review nicht verhindert und erst später zurückgezogen wurden.

Es wird offenbar davon ausgegangen, dass der Peer-Review-Prozess für eine klare Einteilung in „gute“ und „schlechte“ bzw. „falsche“ Wissenschaft sorgt. Das ist aber nur sehr bedingt möglich. Anders als Ideologien liefert die Wissenschaft keine absoluten Wahrheiten, Irrtümer gehören zu ihrem Wesen. Eine Publikation entspricht im Idealfall dem aktuellen Wissensstand. Dieser kann jedoch durch neuere Erkenntnisse widerlegt werden. „Das Prinzip von heute kann die Idiotie von morgen sein und der Mythos von vorgestern die ‚Grundlage allen Denkens‘ von übermorgen“, wie Paul Feyerabend pointiert, aber treffend schreibt. Wissenschaftliche Theorien und Erkenntnisse sind immer hinterfragbar und sollten auch hinterfragt werden, ganz egal, ob sie in einem High-Impact-Journal oder einer „Raubzeitschrift“ veröffentlicht wurden.

Ganz unschuldig an der Wahrnehmung, sie könne absolute Wahrheiten bieten, ist die Wissenschaft selbst allerdings auch nicht. Im Bestreben, sich zu verkaufen oder klare Stellung gegen Pseudowissenschaften, Klimawandelleugner, Kreationisten etc. zu beziehen, wird oft über das Ziel hinausgeschossen. Und bis etwas aus der Forschung über die Pressestelle der Uni und die Massenmedien beim breiten Publikum angekommen ist, ist vieles an Untertönen, Vorbehalten und Einschränkungen verlorengegangen. „Wasser auf dem Mars entdeckt!“ lautete beispielsweise kürzlich die Schlagzeile in vielen Medien. Aber niemand ist dort in eine Pfütze getreten, wissenschaftlich korrekt hätte es heißen müssen „Radardaten legen nahe, dass sich unter der Oberfläche Wasser befindet“. Klingt natürlich nicht mehr ganz so spektakulär. Aber auch Wissenschaftler/innen müssen (oder wollen) sich verkaufen, wollen in prestigeträchtigen Journals, die nur neuartige und bahnbrechende Ergebnisse annehmen, veröffentlichen, müssen ihre Arbeit vor Geldgebern und der Öffentlichkeit rechtfertigen und neue Fördermittel einwerben. Und die Medien greifen wiederum nur das auf, was sie gut verkaufen können. Diese Medialisierung der Wissenschaft ist mindestens so gefährlich wie Predatory Journals.

Fazit

Gut, dass der Finger in die Wunde gelegt wurde. Es ist zu hoffen, dass die Forschenden über die Massenmedien besser erreicht werden als über die wissenschaftsinterne Kommunikation. Wenn sie für das Problem sensibilisiert werden und der eine oder andere bei der Wahl des Publikationsortes etwas sorgfältiger nachdenkt, hätte das Ganze etwas Gutes. Ob die zumeist recht reißerische und pauschalisierende Aufmachung dafür wirklich hilfreich war, sei dahingestellt.

„Predatory Journals“ sind ein Problem, das nicht unter den Teppich gekehrt werden darf, aber auch nicht das größte in der Wissenschaft. Bei der Schlagzeile „Das Geschäft mit der Wissenschaft“ fallen einem als erstes ganz andere Verlage als die in der Predatory-Debatte genannten ein…

... arbeitet im Bereich Publikationsdienste der TIB und ist insbesondere für Beratung und Schulungen zum Thema Open Access zuständig.