Jenseits von #FakeScience: Wie wir falsche Gewissheiten in der Wissenschaftskommunikation überwinden können

(Ins Deutsch übertragen von Lambert Hellers englischsprachigem Artikel über #FakeScience in Generation R)

“Raubverlage” – nichts Neues

Der Wissenschaftsjournalismus in Deutschland kreiste in den letzten Wochen um ein großes Recherche-Projekt über “Raubverlage” und eine ‘Integritätskrise’ der deutschen Forschung. Journalisten regionaler Medien, des WDR, des NDR und der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten in Zusammenarbeit mit einigen internationalen Partnern (z.B. Le Monde) neue Informationen (Übersicht und Links von ARD Tagesschau), die zeigen, dass einige Autoren aus renommierten Forschungsinstituten in Deutschland Artikel in Zeitschriften veröffentlicht haben, die praktisch ohne jegliche Qualitätssicherung Beiträge einwerben.

Dieses Phänomen ist unter dem Begriff „predatory publishers“ bekannt (von den Journalist*innen mit “Raubverlage” übersetzt), der vor zehn Jahren vom Bibliothekar Jeffrey Beall und seiner berüchtigten Liste solcher Verleger definiert wurde. Einige der deutschen Journalisten wählten auch den relativ neuen Begriff #FakeScience, der klar dem Phänomen der „Fake News“ nachempfunden ist. (Siehe auch Robert Gasts Kritik in Spektrum und Arndt Leiningers im Tagesspiegel – beide schlagen „Junk Science“ als einen besseren Begriff vor.) Unsere Kollegen vom Helmholtz Open Science Büro wiesen in ihren informativen FAQ darauf hin, dass es für Forscher leicht ist, solche Verlage zu vermeiden. Zum Beispiel sind Tools wie „Think, Check, Submit“ sehr praktisch, um als Autor*in seriöse Zeitschriften zu identifizieren.

Da der Bedeutung von Peer Review, also der wechselseitigen Begutachtung von Beiträgen durch Mitglieder der Wissenschafts-Community, weithin anerkannt ist und die meisten Autoren in der Regel ohnehin auf ein Publikationsverhalten verzichten, das ihrem Ruf schaden könnte, ist es kein Wunder, dass Publikationen bei „Raubverlagen“ im Verhältnis zum gesamten Menge wissenschaftlicherPublikationen nie wirklich zu einer großen Sache geworden sind. Martin Paul Eve und Ernesto Priego (2017) diskutieren zum Beispiel, dass selbst diejenigen Autoren, die von räuberischen Verlegern getäuscht werden, durch solche Aktivitäten selten wirklich geschädigt werden. Tatsächlich sei die Angst vor einem solchen Schaden ein Mythos, der von traditionellen wissenschaftlichen Verlegern reproduziert wird, und verweist auf Probleme mit dem bisherigen Peer-Review-System.

Das Recherche-Projekt über “Raubverlage” hat – zumindest bisher – nicht die Rohdaten veröffentlicht, die es analysiert hat. (Laut ihrer eigenen FAQ beim NDR.) Glücklicherweise hat Markus Pössel versucht, einen großen Teil der Daten im im Spektrum SciLog zu replizieren; siehe auch Raphael Wimmers ergänzende Analyse eines weiteren Datensatzes. Dies ist  leider eine verpasste Gelegenheit, da die Geschichte veröffentlicht worden war (mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen), bevor die Informationen unabhängig verifiziert werden konnten. Pössels Artikel ist eine schnelle und aufschlussreiche Lektüre. Seine Ergebnisse stellen das in den deutschen Medien erzeugte Bild deutlich in Frage, in seinen eigenen Worten:

“Für die Aussage, ‘Deutschland [nehme] in diesem zwielichtigen Geschäft offenbar eine Schlüsselrolle ein’ (so die Sueddeutsche in einem Bericht zu dem Rechercheprojekt) finde ich in meiner Stichprobe keine Belege. Deutschland liegt im europäischen Durchschnitt, sticht damit nicht besonders heraus und trägt zur Gesamtzahl der hier ausgewerteten Artikel wie gesagt nur 2.5% bei.”

Was ist hier los?

„Raubverlage“ waren nie besonders erfolgreich. Aber warum finden sie überhaupt interessierte Kund_innen? – „Veröffentlich zu werden“ durch etwas, das so aussieht wie eine wissenschaftliche Fachzeitschrift ist offenkundig ein Gütesiegel im gegenwärtigen Wissenschaftssystem. Zeitschriftenmarken werden verwendet um darüber zu entscheiden, was in den Lebenslauf eines Forschers gelangt und was ihn überhaupt zu einem Forscher macht. Längst müsste klar sein, warum dieser Glaube irreführend ist. Er beruht auf einer zutiefst unwissenschaftlichen Praxis der Bewertung von Forschung: Bewertet wird hier auf Grundlage des Behälters, in dem die Forschung kommuniziert wird, und nicht auf Grundlage der Qualität der jeweiligen Forschung selbst.

Seit einigen Jahren sind sich Forschungsförderorganisationen auf der ganzen Welt grundsätzlich einig, dass Forschungsergebnisse in vollem Umfang veröffentlicht und bewertet werden sollten. Diese Bewertung schließt explizit alle Ergebnisse und Produkte der Forschung ein, die über die zusammenfassende „Story“ hinausgehen, die üblicherweise in Zeitschriftenartikeln geliefert wird. Diese Artefakte, die sich aus der Forschung ergeben, sind z.B. originale Forschungsdatensätze oder Teile von Programmcode. Es gibt fast nie einen objektiven oder selbstlosen Grund, darauf zu warten, solche Artefakte neben den Zeitschriftenartikeln oder sogar vorher (oder anstelle von) zu veröffentlichen. Das Gegenteil ist der Fall, und in vielen Fällen sollte sinnvolle Forschung am besten von der Öffentlichkeit beobachtet werden können, bevor die eigentliche Arbeit der Forschenden überhaupt beginnt.

Die Entwicklung des Publizierens und des Peer-Review

In Erweiterung dieser relativ jungen, aber gut akzeptierten Prämisse könnte man sogar noch einen Schritt weiter gehen. Warum werden diese Offenheits-Kriterien nicht nur auf Forschungsergebnisse angewendet, sondern auch auf deren Bewertung? Wenn das Peer-Review-Verfahren selbst so früh und so offen wie möglich stattfindet, ist es wahrscheinlich, dass es anderen Forschern sowie allen, die von den Ergebnissen lernen wollen, hilft. Aus diesem Grund haben renommierte Verlage wie F1000 und BioMed Central schon vor Jahren den „Open Peer Review“ (OPR) eingeführt, einen Prozess, der inzwischen gut untersucht ist. Das vielleicht offensichtlichste Ergebnis ist, dass OPR beweist, dass eine Überprüfung stattgefunden hat, wann, von wem und mit welchem Ergebnis. Mit OPR wird eine klare Grenze zwischen räuberischen und nicht-räuberischen Verlagspraktiken gezogen.

Diese Perspektive ist nicht irgendeine trendige Idee, sondern basiert auf breiten Erkenntnissen aus der Forschung selbst. Nehmen wir zum Beispiel das digitale Repository arXiv. Als Repository für sogenannte Preprints wurde es Anfang der 90er Jahre aus der Teilchenphysik heraus gestartet und ist eine der ersten funktionierenden Anwendungen der Web-Technologie. Es wurde in der Teilchenphysik und den angrenzenden Gebieten so populär, dass es Preprint-Repositorien in anderen Disziplinen, wie biorXiv, inspirierte. Das Konzept dahinter ist immer das gleiche: Bevor man mit dem manchmal umständlichen Einreichen eines Beitrags in eine Zeitschrift auch nur beginnt, wird der Artikel als Preprint der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Viele Preprint-Repositories erlauben – und manche ermutigen sogar dazu – OPR auf Preprints, also unabhängige Review-Berichte, die nicht erst von einem Journal Editor angefragt werden. Die Grundprinzipien hierbei sind, dass das Wissen frei und schnell verbreitet wird und jeder an der Überprüfung eines Beitrags teilnehmen kann, wenn er dies wünscht.

Wer hat Angst vor Raubverlagen?

Seien wir ehrlich: Der peer-reviewte Zeitschriftenartikel ist zur Ware eines äußerst erfolgreichen Wirtschaftszweiges, der wissenschaftlichen Verlagsbranche, geworden. Es ist mittlerweile bekannt, dass die Peer-Review-Praktiken zwischen Verlagen, Ländern und sogar ganzen Disziplinen sehr unterschiedlich sind. (Siehe auch Wolfgang Nellen im Laborjournal-Blog.) Dennoch ist es oft zu selbstverständlich, dass ein Forschungsergebnis „gültig“ ist, da es irgendeine Art Peer Review in einem typisch intransparenten System überlebt hat, während ein anderes Forschungsergebnis ganz anders wahrgenommen wird, da es diesen Status nicht hat. Predatory Publishing versucht, diesen Glauben an die Bedeutung des Häkchens „peer reviewed“ auszunutzen, indem es nur das gutaussehende, vertraute “Paket” – den Artikel selbst und die Suggestion der “Wissenschaftlichkeit” des Verlags – liefert, ohne dass ein nennenswerter Review stattgefunden hat.

Eine oberflächliche, falsche Gewissheit darüber, was in der Wissenschaft zähle, wird täglich reproduziert – undzwar zumeist von Forschenden in Führungspositionen, die nur „hochwertige Zeitschriftenartikel“ berücksichtigen, wenn sie die Forschung von FachkollegInnen bei Promotionen, Berufungen, Drittmittelentscheidungen oder ähnlichen Anlässen beurteilen. (Siehe auch Klaus Tochtermanns Interview im Deutschlandfunk.) Und eben diese oberflächliche Gewissheit wird von Raubverlagen ausgenutzt. Leider wird nur das Letztere leicht und regelmäßig entdeckt und typischerweise von AutorInnen und LeserInnen vermieden, die ein gewisses Grundniveau an Erfahrung erreicht haben.

Transparenz ist das beste Heilmittel

Um diese schädliche Oberflächlichkeit in der wissenschaftlichen Kommunikation zu bekämpfen, gilt das Gleiche wie bei der Korruptionsbekämpfung: „Sonnenlicht gilt als das beste Desinfektionsmittel.“ (Louis Brandeis) Wenn fachliche Repositorien in noch mehr Disziplinen als Kommunikationsmittel genutzt würden, dann würden wir wahrscheinlich weniger Bedarf an Raubverlagen als “Druckventilen” sehen. (Zumindest hören wir in der Teilchenphysik nicht viel von Raubverlagen, weil: arXiv. Siehe auch die bereits erwähnte Replikationsstudie von Pössel.) Wenn die Offenheit des Peer-Review-Verfahrens zum Standard würde, hätten es Verlage schwerer, leere Versprechungen darüber zu machen. Und noch wichtiger: Peer Review würde zu einem erkennbaren Teil der Forschungsarbeit selbst werden, und könnte vielen dabei helfen, Forschung besser zu verstehen, und Forschungsergebnisse besser einzuordnen.

Anstatt also von „Fake Science“ zu reden, so als hätten Forscher eine Agenda, die breite Öffentlichkeit zu täuschen, gibt es eine einfache Lösung: die Förderung und Unterstützung von Preprints und vor allem die Veröffentlichung von Peer-Review-Berichten. Wer eine enrtgemeinte Fachzeitschrift betreibt hat nichts zu verbergen und möglicherweise viel zu gewinnen, wenn er den Peer Review öffentlich macht.

Einige Werkzeuge für Forscher, um ihre OPR-Praktiken zu verbessern:

  • hypothesis.is erlaubt fast alles, was man im Web findet, Wort für Wort, allein oder als Gruppe, zu kommentieren und zu überprüfen.
  • Publons hilft dabei, eigene aktuelle und frühere Peer-Review-Berichte öffentlich zugänglich zu machen.
  • The Winnower hilft bei der Suche nach Gutachtern für alle denkbaren Arten von Veröffentlichungen.

Weitere ausgewählte Reaktionen auf die deutsche Debatte über “Fake Science” im Sommer 2018:

Vielen Dank an Jon Tennant für seine Beiträge zu diesem Artikel.

Mad scientist oder bad scientist? Bild: Glen Edelson, https://www.flickr.com/photos/glenirah/4376553184, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Quellen

Bibliothekar. 🤓
Leitung Open Science Lab der TIB.
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Librarian. 🤓
Head of Open Science Lab at TIB.
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