„Studierende sollen beweisen lernen und nicht Beweise lernen“ – ein Interview mit Christian Spannagel zu Flipped Classroom und Videos in der Lehre

Christian Spannagel, Professor für Mathematik- und Informatikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, setzt audiovisuelle Medien für die Lehre ein. Im Interview berichtet er über die Methode des „Flipped Classroom“ und die Vorteile, die der Einsatz von Videos in der Lehre bieten kann. Christian Spannagels Lehrvideos sind im AV-Portal der TIB verfügbar.

Lieber Herr Spannagel, Sie verwenden Lehrvideos in Ihren Vorlesungen. Wie kann man sich das vorstellen?

Ich verwende die Methode „Flipped Classroom“ in meinen Vorlesungen. Das bedeutet: Ich halte keine Vorlesung, sondern die Studierenden schauen sich Videos in Vorbereitung auf die Vorlesung an. Diese Videos sind frühere Vorlesungsaufzeichnungen oder eigens aufgezeichnete Videos, in denen ich etwas erkläre oder in denen ich den Studierenden einen Impuls zum Weiterdenken gebe. Die Studierenden bereiten sich also mit den Videos und anderen Materialien auf die Vorlesung (die nicht mehr so heißt, sondern „Plenumsveranstaltung“) vor. Im Plenum selbst halte ich nur noch selten Vorträge. Stattdessen sammle ich die Fragen der Studierenden, beantworte sie mit ihnen gemeinsam, bespreche mit ihnen schwierige Aufgaben und so weiter.

Somit befassen sich die Studierenden zunächst eine Woche lang alleine und in ihren Lerngruppen mit den Inhalten und bringen sich so selbst auf ein gewisses Verständnislevel. Im Plenum können wir dann sozusagen die letzten Fragen klären und das Thema abschließen. Das Konzept Flipped Classroom ermöglicht so mehr Interaktion im Hörsaal und einen tieferen Austausch zu den Inhalten zwischen den Studierenden und mir.

Vorlesungsaufzeichnung von Christian Spannagel im AV-Portal der TIB. https://doi.org/10.5446/19882

Welche Vorteile bieten audiovisuelle Medien in der Lehre?

Wenn ich als Student im Hörsaal einem Vortrag folge und etwas nicht verstehe, dann kann ich nicht mal kurz Pause machen und das Ganze nochmal ein paar Minuten lang durchdenken, denn der Vortrag geht einfach weiter. Ich kann auch nicht zurückspulen und mir einen Teil des Vortrags nochmal ansehen, wenn ich etwas verpasst oder nicht verstanden habe. Mit Videos geht das: Hier kann sich jeder in seinem eigenen Tempo mit den Inhalten befassen, den Professor bei Bedarf stoppen oder zurückspulen und vielleicht sogar noch andere Materialen im Web suchen, wenn die Erklärung im Video nicht ausreicht. Videos ermöglichen also ein Stück weit individuelle Unterstützung. Außerdem kann man sich mit Videos gut auf Prüfungen vorbereiten. Studierende schauen gern nochmal in einen Vortrag hinein, um sich die Erklärung des Professors nochmal zu vergegenwärtigen.

Gegenüber Skripten haben Videos den Vorteil, dass Prozesse besser abgebildet werden können. Während man beispielsweise in Skripten der Mathematik oftmals nur Beweise findet, kann man in einem Video zeigen, wie man etwas beweist. Das ist ein Unterschied: Ein Beweis ist nur das Endprodukt des Beweisprozesses. Studierende sollen aber beweisen lernen und nicht Beweise (auswendig) lernen. Den Prozess des Beweisens lernt man unter anderem dadurch, dass man Experten beim Führen eines Beweises beobachtet. Und das geht sehr gut mit dem Medium Video.

Was muss ein Videoportal für wissenschaftliche Videos bieten und welche Argumente sprechen aus Ihrer Sicht für das TIB AV-Portal?

Ein Videoportal muss dem Nutzer ermöglichen, ein Video zu bestimmten Inhalten relativ schnell zu finden. Ein passendes Video zu finden, ist in der Regel schwieriger als einen passenden Text zu finden. Daher müssen Videos gut auffindbar sein, entweder durch eine gute Indizierung (etwa durch Tags) oder eine gute Sortierung oder natürlich durch eine gute Kombination von beidem.  Das AV-Portal der TIB macht das aus meiner Sicht schon sehr gut!

(Zur Auffindbarkeit und Indizierung/Verschlagwortung im AV-Portal siehe z.B. Plank 2014 oder Lichtenstein 2014; Anmerkung BD)

Weitere Informationen zum Flipped Classroom findet man unter:

Die umgedrehte Mathematikvorlesung im Wiki der Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e.V. (ZUM).

Zur Person:

Christian Spannagel ist Professor für Mathematik- und Informatikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er experimentiert seit mehreren Jahren mit der Methode Flipped Classroom und ist zweimaliger Preisträger des Lehrpreises des Landes Baden-Württemberg.

Mehr Informationen zur Person gibt es u.a. bei der PH Heidelberg oder bei Wikipedia.

... arbeitet im Kompetenzzentrum für nicht-textuelle Materialien (KNM).