Wie beschreibt man die Bedeutung einer Selbstverständlichkeit? arXiv, Open Access und die Demokratisierung der Wissenschaft

Eigentlich sprechen die Zahlen für sich: Über 1 Millionen E-Prints insgesamt, 97.517 Submissions und 91.2 Millionen Volltext-Downloads im Jahr 2014, Tendenz steigend. Einen Überblick zu arXiv-Statistiken habe ich unlängst im arXiv-DH-Blog veröffentlicht.

In Rankings findet sich arXiv regelmäßig auf den vorderen Plätzen: Bei den Repositories auf Platz 1, bei den Google Scholar Top Publications mit seinen disziplinären Teilarchiven ab Platz 20, in den Einzeldisziplinen teilweise ganz vorne. Entscheidend ist jeweils die große Sichtbarkeit von arXiv.

Die Nutzungszahlen belegen also eindrücklich, dass arXiv eine wesentliche Informationsplattform für seine Communities ist, worin sich aber diese hohe Relevanz und Akzeptanz von arXiv begründet, lässt sich leider nicht ablesen.

Also starte ich hier den Versuch, die Relevanz von arXiv – jenseits der nüchternen Zahlen – zu erfassen, auch in der Hoffnung arXiv-NutzerInnen dazu anzuregen, darüber nachzudenken und uns mitzuteilen, warum arXiv für sie so selbstverständlich und wichtig (geworden) ist. 

arXiv ist mehr

Die Selbstdarstellung im arXiv Primer liest sich bescheiden:

„Started in August 1991, arXiv.org (formerly xxx.lanl.gov) is a highly-automated electronic archive and distribution server for research articles. Covered areas include physics, mathematics, computer science, nonlinear sciences, quantitative biology and statistics.“

Unter Goals and Missions wird dazu noch ausgeführt:

„arXiv is an openly accessible, moderated repository for scholarly articles in specific scientific disciplines. Material submitted to arXiv is expected to be of interest, relevance, and value to those disciplines. […]. Submissions are reviewed by expert moderators to verify that they are topical and refereeable scientific contributions that follow accepted standards of scholarly communication (as exemplified by conventional journal articles).“

Etwas näher an die tatsächliche Relevanz von arXiv kommt die Beschreibung in den arXiv Membership Program FAQs heran:

„arXiv.org is widely acknowledged as one of the most successful open-access digital archives. In August 1991, Paul Ginsparg created arXiv as a repository for preprints in physics; in 2001, it moved to Cornell University Library (CUL). Now, it has transformed scholarly communication in multiple fields of physics and plays an increasingly prominent role in mathematics, computer science, quantitative biology, quantitative finance, and statistics. It is embedded in the research workflows of these subjects and allows the rapid dissemination of scientific findings. By providing open access to researchers worldwide, arXiv makes science more democratic.“

So sind sie halt, die PhysikerInnen, MathematikerInnen, …, BibliothekarInnen: Nüchtern und sachlich. Dabei wäre ein bisschen mehr Getöse und Eigenlob rund um arXiv durchaus angebracht. Ich möchte diese – aufgrund der Historie von arXiv doch eher technisch anmutenden – Beschreibungen etwas erweitern:

arXiv ist mehr als ein E-Print-Server für die automatisierte Sammlung und Bereitstellung von wissenschaftlichen Veröffentlichungen! (Auch wenn sich viele Funktionalitäten von arXiv aus dieser ursprünglichen Aufgabe ableiten.)

arXiv ist:

  • Publikationsplattform
  • Alerting-Dienst
  • Fachrepository
  • Kommunikationsmedium

Als Publikationsplattform erlaubt arXiv den Autoren die schnelle Veröffentlichung und Verbreitung von Forschungsergebnissen ohne Zeitverzug durch Peer-Review- und weitere Prozesse, die bei Zeitschriftenpublikationen üblich sind. Mit Endorsement und Moderation bietet arXiv (reduzierte) Mechanismen der Qualitätssicherung. Die Submissions entsprechen (mindestens) den Anforderungen eines Artikels, der bei einer Zeitschrift eingereicht wird. Nicht jeder kann alles auf arXiv ablegen. Neben Preprints enthält arXiv auch eine Vielzahl weiterer Versionen bis zum (finalen) Postprint. (Je nach Fachkultur werden Preprints und/oder Postprints abgelegt.)

Über seine Alerting-Funktionalitäten ermöglicht arXiv den Lesern, von neuen Publikationen aus dem eigenen Fachgebiet zügig zu erfahren und so einen unmittelbaren Überblick über aktuelle Forschungsergebnisse zu erhalten. Teilweise werden nur die Veröffentlichungen auf arXiv wahrgenommen und gelesen, die finalen Verlagsveröffentlichungen allenfalls zitiert.

Als zentrales Repository seiner Fächer führt arXiv wichtige Inhalte zusammen:

  • Auf arXiv sind Publikationen an einem Ort zu finden, deren finale Version über Zeitschriften und Verlagsserver verstreut sind.
  • Neben Zeitschriftenartikeln sind u.a. auch Konferenzbeiträge, Dissertationen und Lehrbücher enthalten.
  • Für das wissenschaftliche Arbeiten ist auch relevant, dass auf arXiv unterschiedliche Versionen einer Veröffentlichung bereitgestellt werden.
  • Einige Autoren bzw. Fachcommunities veröffentlichen ausschließlich auf arXiv.
  • Manche Autoren stellen erst das bereits in einer Zeitschrift veröffentliche Paper als frei zugängliches Postprint auf arXiv ein.

Ja, und fast hätte ich diesen Punkt vergessen, weil er so selbstverständlich erscheint: Der ungehinderte direkte Zugriff auf die Inhalte, der jederzeit und weltweit möglich ist, ist wesentliches Merkmal von arXiv als Open-Access-Repository und sicherlich ein entscheidender Grund für seine hohe Relevanz. arXiv ist damit zum Vorreiter und Musterbeispiel der Idee des Open Access für wissenschaftliche Publikationen geworden. Auch hier wurde in der Anfangszeit nicht viel theoretisiert, sondern einfach umgesetzt und dann das Ganze schnell als Schritt hin zur Demokratisierung der Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse von den Communities angenommen. Alle können frei von unnötigen Restriktionen publizieren und lesen!

Im Wissenschaftsalltag hat die Veröffentlichung auf arXiv häufig eine höhere praktische Bedeutung als die Verlagspublikation. Die Bandbreite der enthaltenen Inhalte (Preprint – E-Print nur auf arXiv – Postprint) unterstreicht die unterschiedlichen Funktionen, die arXiv für seine Nutzer erfüllt.

Die Fachkultur hat einen sehr starken Einfluss auf die Art und Intensität der Nutzung von arXiv – das lässt sich z.T. bis auf die Ebene von Arbeitskreisen herunter brechen.

Beim Meeting des Member Advisory Boards 2014 präsentierten Mitglieder aus unterschiedlichen Ländern, was sie von ihren lokalen Nutzern über arXiv hören: Aus allen Beiträgen ging hervor, dass die Nutzerzufriedenheit hoch ist, da arXiv zentrale Bedarfe seiner Communities erfüllt. Es gab sehr viele anerkennende Kommentare zu arXiv, die ein rundum positives Bild ergaben, das beeindruckend unabhängig von den Herkunftsländern der Nutzer ist. arXiv ist damit wirklich ein Dienst für eine internationale Community.

Paper auf arXiv werden zwanglos in die wissenschaftliche Kommunikation eingebunden: Sie werden getwittert, gebloggt, in Vorträgen zitiert, usf.

Sogar direkt auf arXiv werden Ergebnisse in Form von Comments und Replys diskutiert.

arXiv ist alternativlos

Für die Wissenschaft ergänzen sich der schnelle Austausch von Forschungsergebnissen über arXiv und die Qualitätssicherung durch Peer-Reviewing bei Verlagspublikationen, so dass arXiv weiterhin nicht durch Open Access-Zeitschriften oder eine gute Ausstattung mit Zeitschriften-Lizenzen zu ersetzen ist.

Durch die hervorragende Einbindung und Auffindbarkeit von arXiv-Inhalten in Suchmaschinen wie Google, Google Scholar, BASE und fachliche Portale wie INSPIRE-HEP, CERN Document Server, ADS, … und sogar in SciFinder ist arXiv wesentlicher Bestandteil der jeweiligen Forschungsinformationsinfrastuktur. (Selbstverständlich ist arXiv auch in das GetInfo-Portal der TIB integriert worden.)

Vielen AutorInnen sind ihre Artikel auf arXiv so wichtig, dass sie sie selbstverständlich in die Publikationslisten auf ihren wissenschaftlichen Homepages einbinden: Prof. Dr. Gert-Ludwig Ingold von der Universität Augsburg z.B. lädt die Nachweise seiner arXiv-Manuskripte in real-time durch eine arXiv-Abfrage in seine Literaturliste.

Es überrascht kaum, dass auch Nobelpreisträger ihre Veröffentlichung auf arXiv ablegen, wie z.B. Takaaki Kajita und Arthur B. McDonald (Nobelpreis für Physik 2015).

arXiv ist für viele Fachcommunities zu einem so selbstverständlichen Teil ihrer Wissenschaftskommunikation geworden, dass ein „Leben ohne arXiv“ unvorstellbar ist, quasi als nichtexistenter Fall wahrgenommen wird, wie Timothy Gowers kürzlich in einem Blog-Beitrag feststellte:

„The mathematical community is now sufficiently dependent on the arXiv that it is very unlikely that the arXiv will fold, and if it does then there will be greater problems than the fate of Discrete Analysis [1].“

Und gerade deshalb fällt es (nicht nur mir) so schwer, die Bedeutung von arXiv in Worte zu fassen, sprich zu beschreiben, warum arXiv eine so hohe Relevanz für seine Nutzer und Nutzerinnen hat. Dies war mein Versuch …

Schön wäre, wenn wir hier im Blog Ihre Sicht auf arXiv erfahren könnten:

  • Warum ist arXiv für Sie so wichtig?
  • Wie sieht Ihr Leben mit arXiv aus?

und (ich hoffe, die Frage bereitet keine schlaflosen Nächte)

  • Was wäre wenn arXiv nicht mehr zur Verfügung stünde?

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[1] Discrete Analysis ist ein von Timothy Gowers gegründetetes arXiv-Overlay Journal.

... ist Fachreferentin für Physik und zuständig für die Nationale Kontaktstelle im Netzwerk arXiv-DH